Wie sollten sich Eltern im digitalen Zeitalter verhalten? Darüber sprach Silvester anlässlich des internationalen "Safer Internet Day 2020" am 11. Februar. Die Europäische Kommission ruft an dem Tag jährlich zu Veranstaltungen und Aktionen rund um das Thema Internetsicherheit auf.

Frau Silvester, was genau an der neuen Medienwelt verunsichert viele Erwachsene?

Karen Silvester: Die Verunsicherungen betreffen vor allem die Generation über 30, die noch das rein analoge Zeitalter mitbekommen hat. Neu ist vor allem, wie die Medien heute ins Private reingreifen, wie sich Privates und Öffentliches durchdringen. Angesichts des Medienverhaltens ihrer Kinder fühlen sich viele Eltern davon ausgeschlossen und halten es für nicht kontrollierbar. Viele kapitulieren auch, weil sie es nicht verstehen. Bei Zeitungen können sie einschätzen, etwa ob etwas sauber recherchiert ist - beim Internet haben sie Angst, dass sich die Kinder in dem Dschungel verirren.

Neigt der Mensch zu Kulturpessimismus?

Silvester: Ähnliche Ängste gab es ja schon immer. Früher, als jede Familie sich einen Fernseher leistete, hatte man ähnliche Befürchtungen wie heute bei Social Media. Natürlich verändern Technologien das Leben und die Gesellschaft. Aber die Medienerziehung ist heute gar nicht so anders. Pädagogische Fachkräfte und Eltern bleiben immer gefordert. Und letztlich steht das Thema Bindung bei all diesen Erziehungsfragen im Mittelpunkt.

Solange Eltern eine gute Beziehung zum Kind haben, können sie entspannt zuschauen, wenn es sich stundenlang auf Instagram tummelt?

Silvester: Soziale Medien kommen der natürlichen Entwicklung von Kindern entgegen. In diesen Übergangsstadien werden die Peers, die Gleichrangigen, immer wichtiger. Diese normalen Ablöseprozesse der Kinder von den Eltern gestalten sich durch die neuen Medien anders. Diese liefern ihnen nicht nur Input so wie früher, als man nicht unmittelbar mit Likes und Shares auf etwas reagieren konnte. Statt dieses Monologs findet heute ein Dialog statt. Deshalb: Entspannt sein, ja - gleichgültig sein, nein. Auch bei Social Media gilt: Das Maß macht das Gift.

Wie verändert der Dialog mit den Medien die kindliche Entwicklung?

Silvester: Auch bei der Interaktion mit den Medien lernen Kinder entscheidende Dinge wie Frustrationstoleranz und Emotionskontrolle - also Enttäuschungen auszuhalten und ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. Ich ziehe gerne die Analogie zur Verkehrserziehung. Als Eltern kann man Kindern nur sagen, worauf sie achten müssen, was die Straßenverkehrsregeln sind, man muss den Grundstein legen. Dann können sie irgendwann alleine durch die Stadt radeln.

Was bedeutet für die Medienbildung?

Silvester: Eltern sollten dabei sein und verstehen, was ihre Kinder machen. Sie sollten sich nicht auf technische Sicherungen verlassen - die Verantwortung bleibt bei ihnen. Und sie sollten prüfen, was sie selbst ihren Kindern vermitteln. Ein Kind macht sich früh ein Bild von der Rolle, die Medien im Leben spielen. Die wichtigsten Vorbilder sind die Eltern und wie diese damit umgehen. Wenn ein Kind die Mutter oder den Vater immer mit dem Handy oder Ohrstöpseln sieht, hält es das für normal. Es merkt auch, ob jemand ihm zugewandt oder mit dem Kopf woanders ist. Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen dem Medienhandeln eines Kindes und der familiären Situation.

Kinder aus bücherfreundlichen Haushalten lesen mehr...

Silvester: Laut einer Studie wird Kindern in drei Viertel der Haushalte mit höherer Bildung vorgelesen, wodurch sie neugierig aufs Selberlesen werden - aber nur in einem Sechstel der niedriger gebildeten Haushalte. Und es gibt die digitale Bildungskluft: Wofür nutze ich Computer oder Smartphone vorrangig? Zeige ich den Kindern, wie man im Netz recherchieren oder Musik hören kann, oder spiele ich in ihrem Beisein Online-Spiele?

Was sollten Eltern tun, wenn sie das Medienverhalten ihrer Kinder problematisch finden?

Silvester: Die Basis für Erziehung ist die Bindung. Diese baut auf Vertrauen, auf Loslassen-Können - inklusive einer Regel, was passiert, wenn es zum Vertrauensbruch kommt. Heimliche Kontrollen, was das Kind auf dem Handy treibt, sind kontraproduktiv, denn Misstrauen schürt nur den Widerstand. Vielmehr geht es um Partizipation - etwa dass man vereinbart, dass Eltern einmal pro Monat das Handy ihrer Kinder checken dürfen, ob wirklich nur die vereinbarten Apps drauf und die Datenschutz-Einstellungen alle okay sind. Hier muss man gemeinsam und auf Augenhöhe handeln.

Bei SOS-Kinderdorf schlagen wir vor, einen Medienvertrag mit den Kindern abzuschließen, der die Nutzung klar für alle regelt. Der muss altersgerecht sein und immer wieder angepasst werden. Mit den Betreuten in unseren SOS-Kinderdörfern und Wohngruppen verfahren wir seit Jahren so, unsere Fachkräfte und die Jugendlichen machen damit gute Erfahrungen.

Was erleben Sie bei Ihren eigenen Kindern?

Silvester: Mein Sohn zeigt mir seine Handyspiele, die ich dann auch mal spiele. Generell ist das nichts Schlechtes - auch digitales Spielen ist Spielen! Einmal ist er auf einen widerrechtlichen In-App-Kauf-Trick reingefallen. Das teilte mir meine Kreditkartenfirma mit, die die auffällige Buchung meldete. Er hat Spiel-Juwelen im Wert von 200 Euro gekauft. Das Geld habe ich von dem Zahlungsdienstleister zurückbekommen, aber viel wichtiger war, dass mein Sohn durch die Rückbuchung plötzlich ein Minus von Hunderten Diamanten auf seinem Spielekonto hatte - das war wirksamer als jede Strafe, die ich ihm hätte geben können. Geredet über den Fall haben wir natürlich dennoch. Kinder müssen erkennen, dass es einen Übertrag von der medialen in die reale Welt gibt - das ist für sie häufig nicht nachvollziehbar.

Was passiert, wenn Eltern mit Verboten agieren?

Silvester: Klar: Die Älteren müssen ihre Rolle als Bewahrer von Werten spielen und dürfen nicht unhinterfragt auf alle Innovationen aufspringen. Sie müssen kritisch fragen, ob im Kinderzimmer wirklich eine Alexa stehen muss und ob die App TikTok nicht zu viele Daten abgreift. Aber wenn sie zuviel verbieten, dann leidet womöglich die Beziehung zu ihren Kindern. Die kommen dann nicht mehr zu ihnen, wenn sie etwas Verstörendes in einer Youtube-Werbung gesehen haben, sondern verstecken ihr digitales Leben vor den Eltern. Genauso falsch ist aber auch, die Kinder sich selbst zu überlassen und zu sagen: Da kann ich eh nichts machen. Es geht darum, mit Gelassenheit einen Mittelweg zu finden zwischen Verboten und Toleranz. Am wichtigsten ist das Vertrauen in die Kinder und in die Beziehung.

Tiktok, Instagram und Social Media: Tipps für Eltern

Welche Rolle spielt die reale Welt bei den digital Aufwachsenden?

Silvester: Eltern müssen in der realen Welt greifbar bleiben und ein Gegengewicht zum Virtuellen schaffen. Heute gibt es den Trend, dass Jugendliche häuslicher, aber über Chats und Online-Spiele ständig mit ihren Leuten verbunden sind. Doch das befriedigt nur ein einziges der Bedürfnisse nach Nähe. Wenn Smileys die einzigen Ausdrücke von Emotionen werden, dann läuft etwas gewaltig schief. Es ist eine Gratwanderung: Die digitalen Medien dürfen nicht alles dominieren, aber es muss klar sein, dass sie im Alltag dazugehören. Es gilt, die Vielfalt der Anwendungsmöglichkeiten vorzuleben.

In der Fake-News-Debatte, im Bildungssystem: Überall wird "Medienkompetenz" eingefordert. Was verstehen Sie darunter?

Silvester: Medienkompetenz bedeutet, adäquat am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können: die Chancen und die Risiken in den medialen Angeboten zu erkennen wie auch, einen persönlichen Ausdruck darüber zu finden. Im Grunde erfordert Medienkompetenz die gleichen Fähigkeiten wie Lebenskompetenz: Enttäuschungen aushalten, Gefühle kontrollieren, Selbstwertgefühl, Neugierde. Es ist die Kompetenz des Individuums, sich in der Welt behaupten zu können.

Stimmen Sie der Mediatisierungsthese zu, die besagt: Wie wir die Welt erleben, ist immer schon medial vermittelt?

Silvester: Klar - über Medien vermittelt sich die Welt. Doch durch die Entgrenzung von Zeit und Raum in der digitalen Welt geht heute oft die Orientierung verloren. Gesehen werden muss auch die starke Kommerzialisierung der Medien, in denen unsere Daten bares Geld sind. Ich verstehe nicht, wenn Eltern nicht umreißen, dass man keine Fotos seiner Kinder posten darf. Das Internet vergisst nicht, und jeder kann heute Bilder bearbeiten und sie missbräuchlich verwenden. Manche Eltern inszenieren ihre Kinder dort regelrecht. Kinder sind ihren Eltern ausgeliefert, sie vertrauen ihnen - und sie haben ein Recht am eigenen Bild.