Die Stimmen sind ausgezählt, die Wahllokale sind wieder Grundschulen. Sämtliche "Geht wählen!"-Posts auf Social Media verschwinden wieder in den Archiven. Ich hatte definitiv kein Bedürfnis danach, die Menschen zur Wahl aufzurufen. Und zwar nicht, weil ich es nicht wichtig fände, sein Wahlrecht zu nutzen. Im Gegenteil: Mein Vertrauen in unseren demokratischen Rechtsstaat ist groß, manchmal vielleicht zu groß.

Ich zelebriere den Sonntagsgang zum Wahllokal und nerve meine Kinder damit, mich zu begleiten, um ihnen ihre Bürgerinnenrechte- und pflichten greifbar zu machen. Aber trotzdem: Ich hatte in den letzten Wochen und Monaten mehr und mehr das Gefühl, dass die Menschen sehr geübt darin waren, ihre Urteile und Entscheidungen zu treffen. Blitzschnell. Reflexartig.

Die Corona-Pandemie hat unsere Gesellschaft zu einer Entscheidungs-Gesellschaft werden lassen. Gezwungenermaßen und an vielen Stellen auch mit Sinn und Verstand.

Wir waren immer und immer wieder in der unangenehmen Lage, uns entscheiden zu müssen: Home Office, Impfung, Luftfilter - ich kann diese Worte nicht aufschreiben, ohne hinter ihnen große Gedankenwolken aufsteigen zu sehen. Von Risiken und Nebenwirkungen, Verweigerern, Schuldzuweisungen und stiller Vorsicht.

Richtig oder falsch, gut oder schlecht

Oft wurde der Politik vorgeworfen, den Entscheidungsdruck "nach unten" zu verlagern - manchmal wurde ihr auch vorgeworfen, zu viel zu entscheiden. Die Unterscheidung zwischen Richtig und Falsch wurde immer wieder auch zu einer Unterscheidung zwischen guten und schlechten Menschen:

  • Politiker*innen, die Kinder zu den Verlierern der Pandemie machen, wenn sie nicht flächendeckend Luftfilter an Schulen durchsetzen.
  • Andere Politiker*innen, denen das Leben der Enkelgeneration nicht am Herzen liegt, weil sie den Klimaschutz nicht ernst genug nehmen.
  • Impfgegner*innen, die das Leben anderer aufs Spiel setzen.

Wir haben entschieden und beurteilt, haben Schuldige gefunden und unserer Angst Luft gemacht. Ich auch.

Können wir unserem Urteil immer vertrauen?

Aber ich zweifle manchmal auch an meiner Urteilsfähigkeit. Oder vielleicht eher an der Überzeugung, einen Menschen, sein Wesen, seinen Charakter anhand seiner politischen und gesellschaftlichen Einstellungen umfassend beurteilen zu können.

Vielleicht verunsichert es mich, dass ich in Trauergesprächen mit so vielen Widersprüchen im Leben anderer Menschen konfrontiert werde, dass ich nicht mehr zu Schwarzweiß-Zeichnungen in der Lage bin. Aber vielleicht erinnere ich mich auch daran, dass auch ich schon von anderen be-und verurteilt worden bin. Als Frau, als Mutter, als Pfarrerin. Ich wurde an Maßstäben gemessen, die für andere höchst bedeutsam sind. Und die mir ungefragt angelegt worden sind wie ein Anzug, den ich nicht tragen will. Es ist kein schönes Gefühl. Und es beendet jegliche Auseinandersetzung und führt in Isolation und Verstummung.

Menschlichkeit ist nicht verhandelbar

Und ja: Es gibt auch Entscheidens-Momente. Abgrenzungs-Momente. Urteils-Momente. Für Demokrat*innen und Christ*innen decken sie sich mitunter. Nämlich da, wo es um die Achtung des Gegenübers als Mensch geht: Du bist ein Mensch. Du bist ein Geschöpf Gottes. Frei und gleich, würdig und lebendig.

Der Religionsphilosoph Martin Buber, der auch die Bibel so nah und warm übersetzt hat, hat gesagt: Der Mensch wird am Du zum Ich. Für mich ist das die treffendste Übersetzung der Menschenwürde und auch der Geschöpflichkeit des Menschen.

Für die Momente, in denen das Du-Sein des Anderen in Frage gestellt - dafür braucht es Haltung, Entscheidung und Einstehen.

Und zwar gegenüber all denen, die die Würde eines Menschen einschränken und in Frage stellen wollen. Aufgrund seiner Herkunft, der Farbe seiner Haut, aufgrund seines Geschlechts, aufgrund seines Verstandes, aufgrund seiner sexuellen Identität oder aufgrund seiner Religion.

Die Inhalte und Äußerungen von Parteien am äußersten rechten Rand unserer Demokratie tun das. Sie sprechen anderen Menschen ihre Würde ab. Für diesen Moment, wo Menschen entwürdigt werden - mit Worten und mit Taten - sollten wir uns die Kraft und die Klarheit unserer Entschiedenheit und unserer Wahlfreiheit bewahren: Keine wirtschaftlichen Maßnahmen, kein Bildungsplan, keine Sozialgesetzgebung darf auf der Diskriminierung von Menschen beruhen, denen aus rassistischen oder anderen ideologischen Gründen das Mensch-Sein abgesprochen wird.

Ich will weiter diskutieren und streiten: Über Masken, Impfen, Luftfilter, Klimaschutz - in dem Bewusstsein, wo unsere letzte Grenze zu liegen hat und dass wir zur Einhaltung dieser Grenze in Zukunft noch viel Kraft, Klarheit und Mut brauchen werden.