Als der russische Präsident Wladimir Putin seiner Armee den Befehl gab, die Ukraine anzugreifen, hat er damit zunächst viele überrascht. Auch die ersten Reaktionen der deutschen Bundesregierung wirkten eher zaghaft. Doch damit war spätestens Schluss, als Bundeskanzler Olaf Scholz ankündigte, künftig 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr bereitzustellen. Zudem kündigten er und Außenministerin Annalena Baerbock an, entgegen ursprünglicher Zurückhaltung nun doch Waffen an die Ukraine zu liefern.

Eine "Zeitenwende" deutscher Außenpolitik also, wie Scholz es formulierte. Anja Opitz leitet den Arbeitsbereich Internationale Politik und Sicherheitspolitik an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Im Interview erklärt sie, inwiefern Putin den Westen unterschätzt hat, warum Ziviles und Militärisches nicht als Gegensätze gedacht werden sollten und welche Strategien nun gegen Autokraten erfolgsversprechend sind. 

Die Situation in der Ukraine ist in den letzten Tagen sehr schnell und für viele überraschend eskaliert. Was ist da aus sicherheitspolitischer Sicht passiert?

Anja Opitz: Alle Staaten Europas oder des Westens generell müssen momentan diesen Prozess durchlaufen, zu begreifen, dass sie schlichtweg in den letzten Jahren immer wieder belogen worden sind. Auch bei den intensiven diplomatischen Bemühungen kurz vor dem Angriff hat Putin beispielsweise unserem Bundeskanzler, Olaf Scholz, eiskalt ins Gesicht gelogen. Gleichzeitig ist es aber umso bemerkenswerter, welche Stärke und Einigkeit der Westen zeigt und wie stark sich Putin im Westen getäuscht hat.

"Es war immer das Kalkül Putins, den Westen zu spalten. Und das hat er nicht."

Was meinen Sie genau?

Opitz: Wenn ich den Analysten, die Experten für das System Putin sind, Glauben schenken darf, bedeutet das, Putin hat nicht damit gerechnet, dass sich gerade die Europäische Union und die transatlantische Gemeinschaft so zusammenraufen und mit einer Stimme sprechen. Es war ja immer das Kalkül Putins, den Westen zu spalten. Und das hat er nicht.

Hat Putin demnach genau das Gegenteil dessen erreicht, was er eigentlich wollte?

Opitz: Natürlich muss man abwarten, wie sich die nächsten Tage, vielleicht Wochen, Monate entwickeln werden. Wir sind jetzt in der Situation eines Krieges, die wir nicht für möglich gehalten hatten. Und ich glaube, sicherheitspolitisch und auch psychologisch nachvollziehbar agieren jetzt die westlichen Staaten so, wie man das in so einer Situation braucht, nämlich strategisch und entschlossen. Man wird sehen müssen, was die Aufarbeitung dieses Angriffskrieges, wenn sie denn irgendwann beginnen wird, mit sich bringt und wie sich der jetzt vollzogene Wandel hin zur Einstimmigkeit der EU etwa in Zukunft manifestieren wird. Aber ich glaube trotz alledem, dass man momentan festhalten kann, dass Putin sich ein Stück weit verkalkuliert hat: Er hat den Westen massiv geeint, die transatlantische Gemeinschaft massiv geeint und der europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik einen massiven Boost verpasst.

Anja Opitz
Dr. Anja Opitz ist Head of Section für Internationale Politik und Sicherheitspolitik an der APB Tutzing. Sie ist President und Gründungsmitglied der internationalen Global Health Security Alliance (GloHSA) sowie Gründungsmitglied der Middle East and International Affairs Research Group (MEIA Research) in München.

Steuern wir nun auf eine ähnliche Situation wie im Kalten Krieg zu, mit zwei klar voneinander abgegrenzten Machtblöcken?

Opitz: Das glaube ich nicht. Gerade in Deutschland ist nun eine Generation in politischer Verantwortung, die mit einem anderen Mindset und Verständnis von der Welt aufgewachsen ist. Wünschenswert wäre, dass man das umsetzt, was Bundeskanzler Scholz in den letzten Tagen immer wieder gesagt hat: So viel Diplomatie wie möglich, ohne naiv zu sein. Für die Werte einstehen, die wir in der Europäischen Union haben: Frieden, Achtung der Menschenrechte, Diplomatie, und gleichzeitig umsetzen, was man unter dem sogenannten umfassenden Sicherheitsbegriff versteht: Das Militär nicht pauschal verteufeln, nicht pauschal unterfinanzieren, sondern verstehen, was dessen Sinn und Zweck ist, seine Rolle ins 21. Jahrhundert übersetzen und beides, ziviles und militärisches Handeln sowie ressortübergreifendes Denken miteinander verbinden.

"Wir dürfen nicht der Wunschvorstellung verfallen, dass es überall auf der Welt stabile Zustände gibt und wir daher ohne Militär auskommen."

Demokratie braucht also Abschreckungspotential?

Opitz: Wir dürfen nicht der Wunschvorstellung verfallen, dass es überall auf der Welt stabile Zustände gibt und wir daher ohne Militär auskommen. Das wird nicht passieren, auch in naher Zukunft nicht. Insofern brauchen wir eine effiziente und effektive Rolle der Streitkräfte. Und gleichzeitig haben wir weiterhin noch ganz andere Herausforderungen, etwa den Klimawandel, die sicherheitspolitischen Implikationen von Klimawandel, das Thema Gesundheit, also Pandemien und deren sicherheitspolitische Auswirkungen. Wir sind in der Diskussion also sehr viel weiter als die Blockkonfrontation im Kalten Krieg. Die Welt im 21. Jahrhundert ist viel weiter. Die Globalisierung ist viel weiter, da wird auch dieses potenzielle Szenario, dass die Amerikaner Trump wiederwählen, der mit Putin sympathisiert, nichts daran ändern.

Warum nicht?

Opitz: Weil die Europäische Union politisch sehr viel stärker aus dieser Situation herausgeht. Und weil wir, glaube ich, einen Push erleben werden in Bezug auf die EU-Erweiterung in Richtung der Länder der "Östlichen Partnerschaft" und der Balkanstaaten.

Wird es beim russischen Angriff auf die Ukraine einen Punkt geben, an dem der Westen nicht nur über Waffenlieferungen und Sanktionen spricht, sondern auch aktiv eingreifen muss? Etwa, wenn Putin Kiew massiv bombardiert?

Opitz: Das ist eine schwierige Frage. Es steht ja immer noch die Theorie im Raum, dass es nicht in Putins Interesse liegt, die gesamte Ukraine nieder zu bomben. Sein primäres militärisches Ziel scheint ja die Ostukraine und der damit verbundene Landweg zur Krim zu sein. Zudem will er offenbar Kiew umzingeln, um Panik innerhalb der Bevölkerung auszulösen, die ukrainische Regierung zu stürzen und dann ein prorussisches Regime zu installieren.

"Wichtiger denn je ist es jetzt, eine Eskalationspirale nach oben zu verhindern und den Weg auch für eine politische Lösung aus diesem Kriegsszenario heraus zu bauen."

Sie gehen also nicht davon aus, dass Putin den Krieg völlig eskalieren lässt?

Opitz: Ich kann Ihnen überhaupt nicht sagen, was dieser Mensch tut, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht. Viele sagen, er steht noch nicht mit dem Rücken zur Wand. Er kann militärisch durchaus noch weiter eskalieren, das wird man in den nächsten Tagen sehen. Sollte dieses unvorstellbare Szenario eintreten, dass er wirklich alles nieder bombt in Kiew, in der gesamten Ukraine, dann kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass vor allen Dingen die Amerikaner bei der Position bleiben zu sagen, sie mischen sich nicht ein. Aber das ist ein Horrorszenario, was einfach unvorstellbar ist. Wichtiger denn je ist es jetzt, genau diese Entwicklung einer Eskalationspirale nach oben zu verhindern und den Weg auch für eine politische Lösung aus diesem Kriegsszenario heraus zu bauen. Denn das ist der einzige Weg.

Der ukrainische Präsident Selenskyj hat einen Antrag auf sofortige Aufnahme in die EU gestellt. Hat das Aussicht auf Erfolg?

Opitz: Es gibt ein Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine. Im Rahmen dessen wurde der Ukraine auferlegt, bestimmte Reformen durchzuführen, im wirtschaftlichen Bereich, gesellschaftspolitisch und so weiter. Korruption ist beispielsweise ein großes Thema. Bisher sind von den Reformen 60, 70 Prozent der umgesetzt. Allein das spricht gegen eine sofortige Aufnahme. Ich glaube, dass die Unterzeichnung des Beitrittsgesuchs in erster Linie ein Motivationsfaktor gegenüber den eigenen Streitkräften oder auch der Bevölkerung ist. Das soll die Message senden: Hey, haltet durch, wir haben diese europäische Perspektive. Und so verstehe ich auch die Antwort der Europäischen Union, von von der Leyen und den ersten europäischen Staaten, die sich wohlwollend geäußert haben. Ich glaube nicht, dass die Ukraine morgen der EU beitreten und man hier sämtliche Rechtsvorschriften umgehen wird. Nach dem Ende des Kriegs hat sie aber sicher eine gute Perspektive – natürlich vorausgesetzt, dass Putin keine russlandfreundliche Regierung einsetzt.

Die deutsche Außenpolitik hat eine „Zeitenwende“ erlebt, die Kanzler Scholz es ausgedrückt hat. Ist das - Waffenlieferungen an Kriegsparteien und die Bereitstellung von 100 Milliarden für die Bundeswehr – eine Kurzschlussreaktion oder eine nachhaltige Veränderung?

Opitz: Deutschland hat natürlich immer einen berechtigten Grund gehabt, seine diesbezügliche Zurückhaltung historisch zu begründen und man sollte nicht außer Acht lassen, dass das ein Stück weit auch von Deutschland erwartet wurde. Die Welt verändert sich aber, sie steht vor sogenannten hybriden und diffusen sicherheitspolitischen Herausforderungen. Der Klimawandel spielt in die Sicherheitspolitik mit rein. Der Klimawandel spielt auch in das Thema Gesundheit und Sicherheit mit rein, etwa wenn es um das Thema Bioterrorismus geht. Das sind alles zivile Themen, die aber doch auch eine sicherheitspolitische Auswirkung haben.

Können Sie das an einem konkreten Beispiel festmachen?

Opitz: Beispielsweise erschließen sich geostrategisch neue Seewege durch das Abschmelzen von Gletschern. Durch das Abtauen tauchen sogenannte pathogene Keime auf, die sich Terroristen zunutze machen könnten. Die Debatten darum sind immer ein bisschen belächelt worden, denn Militär ist eben etwas Handfestes. Kriegsführung ist etwas Handfestes. Aber die Welt heute wird all diese unterschiedlichen Ströme weiterhin haben und darauf muss man reagieren. Beides muss Hand in Hand gehen. Die Investition in Prävention kostet Geld. Die braucht es aber, und gleichzeitig braucht es eben auch die Investition in die klassische Verteidigung.

"Es ist notwendig, dass diese Diskussion jetzt kommt: Wofür steht die Bundeswehr? Was ist ihre Rolle? Welche Funktionen braucht es? Welche Fähigkeiten brauchen wir?"

Aufrüstung ist aus Ihrer Sicht also auch notwendig?

Opitz: Zu sagen, die Bundeswehr wird jetzt aufgerüstet, ist falsch. Sie wird ausgerüstet. Es ist notwendig, dass diese Diskussion jetzt kommt: Wofür steht die Bundeswehr? Was ist ihre Rolle? Welche Funktionen braucht es? Welche Fähigkeiten brauchen wir? Und im Idealfall denkt man es zivil wie militärisch, also umfassend weiter. Wir müssen uns damit auch als Zivilbevölkerung beschäftigen und die Bundeswehr nicht nur verteufeln. Es braucht Streitkräfte für so einen Fall, wie wir ihn gerade erleben. Weil es solche Autokraten wie Putin, die territorial, imperialistisch denken, eben gibt und weiterhin geben wird.