2021 steht unter dem Motto und der Jahreslosung der Barmherzigkeit, auch wenn das von der Öffentlichkeit und vielen Politikern weitgehend ignoriert wurde. Jede*r Christ*in ist aufgerufen, tätige Nächstenliebe zu üben, auch gegenüber "Fremden" und nicht nur in diesem besonderen Jahr, sondern eigentlich in ihrem ganzen Leben. Das gilt auch für Politiker*innen. Viele Nicht-Christ*innen folgen ähnlichen humanitären Werten. Das hält unsere demokratische Gesellschaft in Solidarität zusammen und überwindet Spaltung.
Leider wurde die Barmherzigkeit gegenüber Flüchtlingen in unserem Lande über Jahre von der Politik vernachlässigt und vergessen. Die Asylpolitik war geprägt von Populismus, Schielen auf den rechten Rand und Überforderung, obwohl viele Menschen im Lande in ehrenamtlicher Arbeit versucht haben, die staatlichen Defizite auszugleichen.
Das Asylrecht ist zu einem Gewirr von Ausnahmeregelungen, Widersprüchen und Aus- und Abgrenzungen verkommen, statt ein Bollwerk des Anspruchs auf Schutz und Gerechtigkeit zu bilden, im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention, die im Juni 70 Jahre alt geworden ist.
Vor wenigen Wochen ist Afghanistans Hauptstadt Kabul von den Taliban eingenommen worden. Das war in der Schnelle nicht zu erwarten, aber lange vorhersehbar. Das jahrelange Versagen des Westens, aber auch der deutschen Regierung ist an den Tag gekommen. Gleichzeitig gingen die Umfragewerte für die C-Parteien in den Keller, von denen sie sich bis zum Wahlsonntag nicht mehr erholt haben. Vor dem Tag des Flüchtlings, den wir am 1. Oktober begehen, um Solidarität mit den zu uns geflüchteten Menschen zu zeigen, haben die Wähler*innen nun gesprochen und Solidarität geübt. Es zeichnet sich plötzlich eine große politische Mehrheit in Berlin für eine Asylwende ab.
Es ist sogar denkbar, dass die Asylpolitik einen der Konsensfelder bilden kann, auf dem sich eine Dreierkoalition der Ampel zusammenfinden könnte. Wir werden aller Voraussicht nach keinen populistischen Hardliner mehr als Innenminister bekommen.
Wir haben in unserer kirchlichen Organisation matteo, die seit Jahren mit ProAsyl und den Flüchtlingsräten eng zusammenarbeitet, ein kurzes Programm für eine Asylwende aufgestellt.
Unser Gastautor
Stephan Reichel ist seit März 2020 Vorsitzender von "matteo - Kirche und Asyl e.V.", den er mitgegründet hat. Zuvor war er Koordinator und Ansprechpartner zum Thema Kirchenasyl der bayerischen Landeskirche. Der Verein besteht aus Pfarrerinnen, Pfarrern, Diakonen, Schwestern und Brüdern sowie Ehrenamtlichen und wurde 2017 gegründet. Im Vordergrund stehen Themen wie Aufnahme, Integration und begleitete Rückführung von Geflüchteten sowie der kirchliche Diskurs darüber. Der Vereinsname "Matteo" spielt auf einen zentralen Satz aus dem Matthäus-Evangelium an: "Ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen" (Matthäus 25, 35).
In zehn Forderungen beschreiben wir, wie eine neue menschliche und christliche Asylpolitik aussehen könnte:
- Wir möchten, dass das Grundrecht auf Asyl wiederbelebt wird, dass wir ein faires und geordnetes Asylrecht zurückbekommen, es wieder faire Asylverfahren beim Bamf gibt, und auch die Entscheidungslinien der Gerichte sich wieder am Asylrecht und der Menschenwürde orientieren.
- Das Bamf mit seinen seit Jahren systemisch falschen negativen Asylbescheiden muss umstrukturiert werden und ein neue Leitung bekommen, für die Schutz und Integration wieder im Mittelpunkt stehen.
- Wir verlangen, dass die Flüchtlinge ihre Bürgerrechte und Würde zurückbekommen, die ihnen in Lagern, ANKERN, verordneter Sozialhilfe, Arbeits- und Arbeitsverboten genommen wurden.
- Wir fordern von der neuen Regierung aber auch eine ernsthafte Evakuierung von bedrohten Menschen aus Afghanistan, zu denen die vielen aus Deutschland Abgeschobenen gehören, die aufgrund falscher Ablehnungen deportiert wurden und sich nun in Lebensgefahr befinden. Alle negativen afghanischen Asylbescheide müssen umgehend überprüft und aufgehoben werden. All das sind wir den afghanischen Flüchtlingen schuldig, die bisher oft vergeblich in unserem Land Schutz gesucht haben. Es wäre auch ein Akt der politischen Barmherzigkeit, den Afghan*innen nun eine sichere Heimstätte zu geben.
- Die unsägliche und unfaire Dublin-Verordnung muss durch ein gerechtes europäisches Verteilungssystem ersetzt werden. Die gerade forcierten Abschiebungen nach Rumänien, Bulgarien oder Kroatien müssen umgehend beendet werden. Viele Syrer*innen, Afghan*innen und Iraker*innen erfahren in den Gefängnissen und Lagern dieser Staaten schwere und systematische Gewalt durch Polizisten, die wir über die letzten Monate dokumentiert haben. Wir bereiten gerade eine Sammelstrafanzeige beim Generalsstaatsanwalt in Bukarest gegen rumänische Polizist*innen und Zollbeamte vor, die Flüchtlinge, Männer, Frauen und Kinder geschlagen, getreten und misshandelt haben.
- Aber wir fordern auch eine Wende zur positiven Behandlung des Migrationsthemas. Wir müssen die Flüchtlinge aus dem Laboratorium der Populist*innen und Rechtsradikalen befreien, die jahrelang ihre eigenen Psychosen und Verlustängste auf die zu uns Geflüchteten übertragen haben.
Über 90 Prozent der seit 2015 zu uns flüchtenden Menschen haben Anspruch auf Schutz und werden hier bleiben. Sie kommen fast alle aus Staaten mit Krieg, Bürgerkrieg oder Diktaturen mit schwerer Verfolgung. - Umso mehr muss eine umfassende Integration gefördert werden mit guten Lebensumständen und Angeboten, Anreizen, manchmal auch mit Druck. Das wurde von der alten deutschen "Abschieberegierung" bisher vernachlässigt.
- Das Integrationsgesetz muss Menschen, die Arbeit und Ausbildung haben, ein Bleiberecht verschaffen. Die besonders von Bayern ausgenutzten Schlupflöcher zur Umgehung des "3 plus 2-Gesetz" müssen geschlossen werden. Das Tor vom Asyl zum Bleiberecht durch Integration muss weit geöffnet werden.
- Wir brauchen aber auch ein modernes und vereinfachtes Einwanderungsgesetz, das Arbeits- und Ausbildungsimmigration fördert, ohne ärmere Staaten ausbluten zu lassen. Wir brauchen keine Anwerbekampagnen für Pfleger aus Mexiko, solange wir integrierten und fitten Afghanen, die hierher geflüchtet sind, die Ausbildung verweigern.
- Wir wünschen uns die Einrichtung eines Kompetenzzentrums bei der neuen Bundesregierung zur Analyse und Behebung von Fluchtursachen. Die Lösungen der Fluchtvermeidung können nicht Grenzzäune und Frontex sein, sondern eine moderne Konfliktmoderation, Verbot des Waffenhandels und Beseitigung von wirtschaftlicher Knebelung armer Länder. Niemand verlässt gerne und ohne Grund seine Heimat.
Das sollte ein Volk von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen, wie es die Deutschen sind, am besten wissen, nicht nur, aber besonders heute am "Tag des Flüchtlings". Unsere eigene Nabelschau könnte zu noch mehr Solidarität mit den heutigen Flüchtlingen führen.
Die neue Bundesregierung ist aufgerufen, diese ethische und tatkräftige Wende in unserer Asylpolitik zu vollziehen. So könnte 2021 als das Jahr eingehen, in dem die Barmherzigkeit für Fremde und der Rechtsstaat am Ende gesiegt haben.
Stellen wir die Ampel in Berlin auf grün für eine Asylwende!