Leonardo war ein Außenseiter: unehelich geboren, Linkshänder, von seinem Vater nicht legitimiert. Wie wurde er zum Universalgenie der Renaissance?
Geboren wurde er am 15. April 1452 im toskanischen Weiler Anchiano bei Vinci, nicht weit von Florenz. Der Nachteil, als uneheliches Kind des Notars Piero da Vinci und der Magd Caterina geboren zu werden, wurde für ihn zur Chance: Er konnte nicht Notar wie sein Vater werden, wie es damals üblich war. Er musste gar nichts werden – und wurde alles.
Er zog mit seinem Vater nach Florenz, wo er die Lust am Musizieren, Zeichnen und Modellieren auslebte. Als er 17 war, steckte ihn sein Vater in die Werkstatt von Andrea del Verrocchio, einem Bildhauer, Maler und Goldschmied.
Zusammen mit seinem Meister malte Leonardo das Bild "Tobias und der Engel" und offenbarte bereits hier seine Klasse: Ein Fisch, in der Hand des Tobias, ein Hund zu Füßen des Engels und auch die Haare des Tobias zeigen seine Handschrift. Von Anfang malte er mit einer Liebe zum Detail: Er wollte Haare so malen, wie sie eben aussehen, ein nacktes Bein mit den sich abzeichnenden Muskeln, Sehnen und Knochen, einen Fisch mit seinen Schuppen, eine Landschaft so, wie sie dem Betrachter erscheint, wenn er in die Ferne blickt.
Notizbücher voll mit Naturstudien
Leonardo blieb auch nach der Lehrzeit bei Verrocchio, der einer Erzählung des Künstlerbiografen Giorgio Vasari (1511–1574) nach so beeindruckt war, dass er keinen Pinsel mehr angefasst haben soll.
In Verrocchios Werkstatt entwickelte Leonardo seine Sfumato-Technik, die Weichzeichnung von Objekten, um das Gemalte an das realistische Sehverhalten anzupassen. Seit 1472 findet sich sein Name in den Listen der Malergilde San Lucca von Florenz. Spätestens zu dieser Zeit begann er, Skizzen und Entwürfe in Notizbüchern festzuhalten, hier finden sich auch persönliche Gedanken, To-do-Listen und Tagebucheinträge.
Die Notizbücher sind voll von Naturstudien: Pflanzen, Tiere, Wasserstrudel, anatomische Zeichnungen von Frauen, Männern und sogar Ungeborenen im Mutterleib. Er hatte ein Faible für groteske Figuren, die er mit dem Rötelstift festhielt. Seine Arnolandschaft vom 5. August 1473 ist die erste datierbare Landschaftsdarstellung der abendländischen Kunstgeschichte.
Ausgeprägte Beobachtungsgabe
Er war wissbegierig, sein Antrieb war eine ausgeprägte Neugier. Leonardo studierte die geologischen Sedimente am Flussufer, bevor er seine Arnolandschaft malte. Er besaß durch optische Versuche die Fähigkeit, Lichtreflexe auf Objekten treffend darzustellen. Seine anatomischen Studien befähigten ihn, Körper von Menschen und Tieren realistisch darzustellen. Der Leonardo-Kosmos offenbart sich über seine Notizbücher, von denen rund ein Drittel erhalten ist, 7200 Seiten insgesamt.
Er war aber auch nachlässig in der Vollendung seiner Werke. Für seine Auftraggeber war er höchst unzuverlässig. Er ließ Gemälde unvollendet oder behielt sie einfach bei sich, verzichtete aber dann auch auf den Lohn.
Sicher hatte er eine ausgeprägte Beobachtungsgabe. Er studierte den Flügelschlag von Vögeln, um eigene Flugmaschinen zu konzipieren, er warf Blumensamen in einen Bachlauf, um dessen Strömungsverhalten für Wasserprojekte zu nutzen. Ihn interessierte nicht nur, wie die Dinge sich abspielten, er wollte auch wissen, warum. Er fragte, warum der Himmel blau ist, warum der Mond leuchtet und wie die Wolken beschaffen sind, warum der Mensch gähnen muss und warum beide Augen immer in dieselbe Richtung blicken. Und er konnte wochenlang darüber sinnieren, wie man mit Zirkel und Lineal in einen Kreis ein flächengleiches Quadrat einzeichnen kann. Das mathematische Problem der Quadratur des Kreises fesselte ihn bis an sein Lebensende.
Der vitruvianische Mensch
Er dachte in Analogien, also in Entsprechungen in verschiedenen Bereichen. Ein Ergebnis davon ist seine Zeichnung des vitruvianischen Menschen, die auf der italienischen Ein-Euro-Münze abgebildet ist. Leonardo erkannte analoge Proportionen im Körperbau des Menschen, geometrischen Flächen, Grundrissen von Tempeln und musikalischen Harmonien. Er beobachtete die Natur und brachte in seinen Skizzen das Geflecht menschlicher Adern in Zusammenhang mit dem Wurzelwerk von Pflanzen; aufgewühlte Wasserläufe inspirierten ihn beim Malen von Haarlocken, Flusslandschaften verglich er mit Baumzweigen, den Fötus in der Gebärmutter mit dem zusammengefalteten Spross einer Pflanze. Er glaubte an die Einheit der Natur und konnte deshalb Dinge entdecken, die anderen verborgen waren. Umgekehrt verband er die Disziplinen und konnte deshalb großartige Dinge in den verschiedensten Bereichen erschaffen. Er war Inbegriff eines universalen Geistes, jemand, der die Schöpfung und den Platz des Menschen darin begreifen wollte.
Leonardo-Biograf Walter Isaacson sieht in den wissenschaftlichen Studien Leonardos das tiefe Bedürfnis, "die Schönheit der Schöpfung zu ergründen". Isaacson: "Er glaubte an das Wunderbare und Ehrfurchtgebietende der Schöpfung, doch in seinen Augen konnte man sie durch Wissenschaft und Kunst erforschen und viel besser wertschätzen als durch die von der Kirche verordneten Dogmen."
"Der Mensch ist das Abbild der Welt", war Leonardo überzeugt. In der Einheit vom Mikrokosmos des Menschen und dem Makrokosmos des Universums zeigte sich für ihn die Schönheit der Schöpfung. Und das war es auch, was er mit seinen Werken zeigen wollte.
Bestenfalls 15 Gemälde von Leonardo erhalten
Ab 1477 stieg er zu den führenden Malern der Stadt auf – als freier Künstler unter der Patronage von Lorenzo di Medici (1449-1492), dem Stadtherrn von Florenz. Er malte Auftragsporträts und Madonnenbilder. Er war leicht ablenkbar. Sobald die Herausforderung fehlte oder etwas zur Routine wurde, wandte er sich anderen Dingen zu. Er nahm den Auftrag für ein Altarbild über die Anbetung der Heiligen Drei Könige an, ließ die Arbeit jedoch liegen, als er 1481 die Chance für eine Stelle am Hof der Familie Sforza in Mailand sah. Er bewarb sich als Militäringenieur ("Ich kann auch Kanonen bauen"), erst in letzter Hinsicht als Architekt, Bildhauer und Maler. Er bekam den Job, wirkte in Mailand aber letztendlich vor allem als Organisator für Hofzeremonien und Festivitäten.
Von Leonardo sind viele Zeichnungen, aber bestenfalls 15 Gemälde erhalten. Jedes Werk für sich erzählt etwas Besonderes über seine künstlerische Entwicklung, aber drei Exponate ragen heraus: Der vitruvianische Mensch, das Abendmahl und die Mona Lisa.
Der vitruvianische Mensch
Um 1490 fertigte Leonardo die Zeichnung "Vitruvianischer Mensch". Darin verbindet er die Anatomie des Menschen mit Geometrie, Proportionenlehre und Philosophie. Sie zeigt einen Mann mit ausgestreckten Armen und Beinen in zwei überlagerten Positionen. Mit den Fingerspitzen und den Sohlen berührt die Figur ein sie umschreibendes Quadrat und einen Kreis. Leonardo griff dabei die Idee des römischen Architekten und Ingenieurs Vitruv aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert auf, den menschlichen Körper in seinen idealen Proportionen darzustellen – eingezeichnet in die vollkommenen geometrischen Flächen des Quadrats und des Kreises. Das hatten vor Leonardo auch schon andere versucht, aber erst ihm gelang es, Kreis und Quadrat so zu überlagern, dass eine harmonisch proportionierte Gestalt entstand. Was ihn von allen anderen unterschied: Das Quadrat hat einen anderen Mittelpunkt als der Kreis: Der Zirkel setzt im Nabel an, das Quadrat hat seine Mitte im Genitalbereich. Die beiden Mitten markieren also die Bereiche des Menschen, die für den Beginn des Lebens stehen.
Leonardo war besessen von der Anatomie des Menschen. Er sezierte gegen das kirchliche Verbot Leichen, um das Skelett, Sehnen, Muskeln und Organe mit ihren Funktionen und Proportionen zu erforschen. In der mittelalterlichen Kunst waren die Menschen noch relativ starr und unbeweglich dargestellt worden, sie waren in der Regel Heilige, Symbolträger für eine geistige Grundhaltung. Jetzt rückte der Mensch in den Mittelpunkt, ein Wesen aus Fleisch und Blut, mit Charakter, Emotionen – und in Bewegung. Das nach oben orientierte gotische Weltbild wandelte sich zu einem Kosmos der konzentrischen Kreise, in deren Mittelpunkt der Mensch steht, das Maß aller Dinge. Humanistische Prinzipien wie Toleranz, Gewalt- und Gewissensfreiheit standen dadurch auf der Agenda. Die Fragen waren: Was ist der Mensch? Was ist sein wahres Wesen? Wie kann der Mensch dem Menschen ein Mensch sein?
Leonardos vitruvianische Proportionsstudie steht beispielhaft für die neue Weltsicht. In ihr wird der Mensch in seiner körperlichen Beschaffenheit in die Mitte gesetzt. Man kann die Renaissance damit als Beginn der neuzeitlichen anthropozentrischen (auf den Menschen bezogenen) Weltsicht verstehen. Die Folgen waren Subjektivierung und Individualisierung, Trends, die letztlich auch der Reformation (Ich stehe hier…) zum Durchbruch verhalfen. Der vollkommene Körper wurde zum Ideal erhoben.
Die Darstellung des idealen Menschen war jedoch für Leonardo nicht alles. Er hatte immer sein Skizzenbuch zur Hand – wenn er einem ungewöhnlich aussehenden oder skurrilen Typen begegnete, zeichnete er ihn ab. Charaktere, Emotionen, Bewegung, das waren erst in der Malerei der Renaissance Themen. Die Chance, dies zur Vollendung zu bringen, bot sich Leonardo in Mailand.
Das Abendmahl
Zehn Jahre nach seiner Ankunft in der Stadt, er war etwa 40 Jahre alt, bekam er den Auftrag, ein Bild für die Stirnwand des Refektoriums des Klosters Santa Maria delle Grazie in Mailand zu malen. "Das Abendmahl", ein Wandgemälde mit 8,8 Metern Breite und 4,6 Metern Höhe, gehört zu den berühmtesten Bildern der Kunstgeschichte. Leonardo hielt den Moment fest, in dem Jesus seinen Jüngern sagt, dass ihn einer verraten würde. Jeder der Jünger reagiert anders, es sind Gesichter und Körperhaltungen voller Emotionen, wie sie bis dahin nicht dargestellt werden konnten. Leonardo profitierte von seinen anatomischen Studien und seiner Vorliebe für skurrile Gesichter, die er stets in seinen Notizbüchern festhielt.
Das Bild wurde bewundert, wurde aber maltechnisch zum Desaster. Die Temperafarben hielten nicht lange auf der Gipswand. Durch Feuchtigkeit und Schimmelbildung blätterte das Bild ab. Fehlerhafte Restaurierungsversuche verschlimmerten den Zustand, bis im 20. Jahrhundert die Konservierung mit einer behutsamen Wiederherstellung des Gesamteindrucks gelang.
Nach seiner Flucht aus Mailand im Dezember 1499 wegen des Einmarschs der Franzosen begannen Leonardos Wanderjahre. Über Venedig und Mantua kam er im April 1500 wieder nach Florenz, wo gerade die Tyrannei des Dominikanermönchs Savonarola zu Ende gegangen war. Im Frühjahr 1502 trat er in den Dienst Cesare Borgias, Herzog von Valentino, kaltblütiger Feldherr, Vorbild für Machiavellis "Fürst". Danach ging er wieder zurück nach Mailand.
Die Mona Lisa
Zwischen 1503 und 1506 hat Leonardo in Mailand am Porträtbild "La Gioconda" gemalt, aber in den Jahren danach immer wieder daran weitergearbeitet. Die Mona Lisa mit ihrem geheimnisvollen Lächeln und einem Blick, der dem Betrachter zu folgen scheint, wurde zu Leonardos Meisterwerk.
Im Bildnis der Mona Lisa brachte Leonardo seine in den 1470er-Jahren entwickelte Sfumato-Technik zur Vollendung. Damit konnte er die Landschaft im Hintergrund in einen nebligen Dunst hüllen. Er erreichte diesen Eindruck der trüben Atmosphäre, indem er über den erdfarbenen Malgrund dünne, mit Weiß vermengte Lasurschichten legte und damit eine durchschimmernde, gebrochene Farbtönung erzeugte. Dabei verteilte er mit feinstem Pinselstrich die Farbe so, dass die Umrisse der Motive scheinbar ineinanderfließen. Manchmal tupfte und glättete er den Farbauftrag mit den Fingerspitzen.
Andere Maler seiner Zeit, zum Beispiel Michelangelo, betonten die Kontraste der Flächen, auch indem sie Linien zogen, um Kanten zu definieren. Leonardo lehnte diese Technik des "disegno" bewusst ab, weil er es in der Realität nicht so wahrnahm. Er schrieb: "Die Schatten, die du nur mit Mühe unterscheidest und deren Grenzen du nicht recht erkennen kannst, sondern verschwommen wahrnimmst, darfst du nicht scharf umgrenzt oder klar umrissen machen. Sonst würde dein Werk hölzern wirken. Die Linie, die die Grenze einer Oberfläche bildet, ist von unsichtbarer Dicke. Deshalb, oh Maler, umreiße deine Körper nicht mit Linien."
Das Geheimnis der Mona Lisa
Leonardo hatte durch seine Naturbeobachtung erkannt, dass in der Natur Objekte, die man aus weiter Ferne sieht, undeutlicher erscheinen. Durch die blassere, ins bläulich gehende Farbgebung konnte er Entfernung suggerieren. Leonardo mäkelte über seinen Malerkollegen Botticelli, er erschaffe "langweilige Landschaften", weil ihm das Gefühl für die Luftperspektive fehle und er weit entfernte Bäume in denselben strahlenden Grüntönen male wie die nahen Bäume.
Das Geheimnis der Mona Lisa liegt in den etwas verwischten Konturen und verschleierten Farben, die die Formen verschmelzen und der Fantasie des Betrachters einen gewissen Spielraum lassen. Vor allem bei den Augen und beim Lächeln der Mona Lisa geben die verschwommenen, wie mit Nebel umhüllten Übergänge den eigenen Vorstellungen Raum.
Der Schriftsteller Théophile Gautier machte 1858 die Mona Lisa zu einer romantischen Ikone des Weiblichen: "Aber ihr Ausdruck, weise, tief, samtig und voller Versprechungen, zieht euch unwiderstehlich an und vergiftet euch, während der sinnliche, schlangenhafte Mund euch mit soviel Süße, Anmut und Überlegenheit verspottet, dass man sich ganz schüchtern fühlt, wie ein Schuljunge vor einer Herzogin."
Hofkünstler der Medici
Der englische Essayist Walter Pater nannte 1869 die Mona Lisa "eine Schönheit, in die die Seele mit all ihren Krankheiten eingegangen ist! Alle Gedanken und Erfahrungen der Welt haben ihre Spuren dort eingegraben … die Sinnlichkeit Griechenlands, die Wollust Roms, der Mystizismus des Mittelalters … die Wiederkehr der heidnischen Welt, die Sünden der Borgia." Und er schrieb: "Die Gestalt, die hier so seltsam neben den Wassern auftaucht, drückt die Erfüllung eines tausendjährigen Begehrens des Mannes aus. Es ist eine Schönheit, in welche die Seele mit all ihrem kranken Sinnenleide hineingeflossen ist! Gleich dem Vampyr hat sie schon viele Male sterben müssen und kennt die Geheimnisse des Grabes; sie tauchte hinunter in die See und trägt der Tiefe verfallenen Tag in ihrem Gemüt."
Leonardos Leben nahm noch mal einige Wendungen. 1513 wurde er Hofkünstler der Medici im Kirchenstaat in Rom. Die letzten beiden Jahre verbrachte er auf Einladung des neuen französischen Königs Franz I. im Schloss Clos Lucé in Amboise.
In Frankreich war Leonardo persönlich glücklich, aber auch resigniert, was die Menschheit betraf. Er malte verschiedene Wasserstudien der Sintflut und schrieb dabei düstere Prophezeiungen in sein Notizbuch: "Auf der Erde wird man Geschöpfe sich unaufhörlich bekämpfen sehen, mit sehr schweren Verlusten und zahlreichen Toten auf beiden Seiten. Ihre Arglist kennt keine Grenzen. In den riesigen Wäldern auf der Welt fällen ihre grausamen Mitglieder eine riesige Zahl an Bäumen. Sind sie erst mit Nahrung vollgestopft, wie wollen sie ihr Bedürfnis befriedigen, jedem lebenden Wesen Tod, Trübsal, Verzweiflung, Terror und Exil zuzufügen … O Erde! Worauf wartest du, um dich zu öffnen und sie in die tiefen Spalten deiner großen Abgründe und deiner Höhlen zu reißen und dem Angesicht des Himmels ein so grausames und furchtbares Monster nicht mehr zu zeigen!"
In seinem Testament verfügte er, dass in drei verschiedenen Kirchen in Amboise Messen gelesen und Kerzen angezündet werden sollten und dass bei seiner Bestattung sechzig arme Männer als Fackelträger teilnehmen sollten. Leonardo starb am 2. Mai 1519.