Zu Tausenden engagieren sich Menschen für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Sie treffen dabei auf Menschen, die wochenlang körperlichen und psychischen Strapazen ausgeliefert waren. Damit steigen auch die Anforderungen an private Unterstützer und staatliche Einrichtungen, sagte Rita Rosner, Professorin für Klinische und Biologische Psychologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, dem Sonntagsblatt.
Frau Rosner, welche psychische Situation liegt bei den Flüchtlingen vor?
Rosner: Es gibt eine ganze Spannbreite von Erscheinungsbildern bei Flüchtlingen. Das muss man sich wie eine Pyramide vorstellen: Auf der untersten Ebene sind Personen, die eigentlich gesund sind. Sie sind bis zu diesem Zeitpunkt gut mit der Belastung zurechtgekommen. Diese Menschen brauchen vermutlich nur soziale Unterstützung: Wie geht es weiter, wo finde ich Hilfe, wie fülle ich ein Formular aus, mit wem muss ich als Nächstes reden? Das werden die meisten Personen sein.
Dann gibt es eine Zwischengruppe, die befindet sich im Moment oberhalb dessen, was sie selbst bewältigen kann. Neben der grundlegenden Unterstützung brauchen diese Menschen psychosoziale Unterstützung. Das ist das, was normalerweise in funktionierenden Sozialverbänden mit Freunden und Familie vorliegt, aber jetzt gestört ist durch die Flucht und das Unterwegssein. Darauf verstehen sich die Ersthelfer aus der psychosozialen Notfallversorgung wie Johanniter, Diakonie und Caritas und dergleichen sehr gut. Und im oberen Teil der Pyramide haben wir Menschen, die professionelle Hilfe brauchen von niedergelassenen Ärztinnen und Psychologen.
"Je länger der Krieg dauert, desto schwerer werden die Leute traumatisiert sein, die zu uns kommen."
Die menschliche Psyche übersteht den Krieg also ganz unterschiedlich. Welchen Vorteil hat so ein Pyramiden-Modell?
Rosner: Das Pyramiden-Modell wird von der WHO stark empfohlen, weil es zum einen verdeutlicht, was die Geflüchteten brauchen, und zum anderen, was wir an Experten verfügbar haben. Wir können nicht die maximale Ressource für alle vorhalten, sondern nur für die, die psychisch krank sind oder werden. Noch gibt es nicht so viele, die eine posttraumatische Belastungsstörung haben, weil sie rechtzeitig geflohen sind. Das wird sich aber ändern: Je länger der Krieg dauert, desto schwerer werden die Leute traumatisiert sein, die zu uns kommen.
Bei einem Großteil ist es so, dass sie sich hier in den Unterkünften selbst stabilisieren können. Aber ein Teil nicht: Es wird Geflüchtete geben, die weiter extreme Übererregungssymptome haben, schlecht schlafen, leicht erschrecken, die Intrusionen oder Flashbacks haben, weil sie Leichen gesehen haben oder wie Familienmitglieder schwer verletzt wurden oder verstorben sind. Das braucht eine Weile, bis man erkennen kann, ob die Selbstheilungskräfte ausreichen oder nicht. Da muss man noch einen oder zwei Monate abwarten.
"Eine Person, die erschöpft ist und krank wird, nutzt gerade keinem etwas."
Was kann zur Beruhigung der Gesamtsituation sowohl für Flüchtlinge als auch für Helfende beitragen?
Rosner: Zurzeit schauen alle den ganzen Tag Nachrichten. Das ist verständlich, weil Geflüchtete noch Angehörige in den betroffenen Regionen haben. Man versucht so viele Infos wie möglich zu erhalten. Gleichzeitig kann man aber nicht viel machen. Deshalb muss man aufpassen, sich die richtige Dosis zuzufügen. Das nennt man Stimulus-Kontrolle. Das gilt auch für die Helfenden. Hier müssen Ruhephasen eingebaut werden. Gerade diejenigen, die zum ersten Mal ihre Hilfe anbieten, müssen eine Sicherheitsschwelle einbauen, damit sie nicht zu viel machen und selbst eine Stressreaktion bekommen. Eine Person, die erschöpft ist und krank wird, nutzt gerade keinem etwas.