Muslim I. ist fast sein ganzes Leben auf der Flucht. Ob der 20-Jährige jemals irgendwo ankommt, wo er dauerhaft bleiben kann und will, ist ungewiss. 1999 kam er in der russischen Teilrepublik Tschetschenien zur Welt - kurz zuvor hatte der zweite Tschetschenien-Krieg begonnen.
Zwei Jahre war Muslim alt, als seine Familie in die Nachbarrepublik Inguschetien floh. Als Kind sah er, wie bewaffnete Milizen das Elternhaus stürmten und seinen Vater verschleppten. Eine Woche später wurde dieser freigelassen und war so zugerichtet, dass der Sohn ihn kaum wiedererkannte. 2006 flüchtete der Vater vor den Warlords und Milizen, die ihn bedrohten, nach Österreich. Ein Jahr später folgten Frau und Kinder.
Über Belgien kamen Muslim I. und seine Familie nach Deutschland.
Sie leben heute in Fürth. Jahrelang tat sich der heute 20-Jährige in der Schule schwer - die vielen Ortswechsel und schlimmen Erinnerungen warfen Muslim immer wieder zurück. Außerdem wies das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zwischenzeitlich den Asylantrag der Familie ab. Trotzdem schaffte Muslim 2016 seinen Mittelschulabschluss. Danach absolvierte er ein Praktikum in einem Altenheim. Die Arbeit machte ihm Spaß, er erhielt ein gutes Zeugnis.
2017 kam der nächste Tiefschlag: Das Verwaltungsgericht Ansbach wies die Klage der Familie gegen die Ablehnung des Asylantrags zurück. Am 26. November 2018 gegen 5.30 Uhr stürmten Polizisten die Wohnung, um Muslims Eltern und jüngere Geschwister abzuschieben. Ihn selbst betraf die Deportation nicht, da seine Papiere fehlten. Muslims Mutter wurde ohnmächtig. Berichten der Familie zufolge schleiften SEK-Einsatzkräfte die schwer kranke Frau barfuß im Nachthemd durch den Flur.
Am Frankfurter Flughafen, wo die Familie in eine Maschine nach Moskau gesetzt werden sollte, wurde die Abschiebung gestoppt:
Muslims Mutter war nicht reisefähig. Schon vorher hatten ihr das mehrere Ärzte attestiert. Dekan Jörg Sichelstiel von der evangelischen Gemeinde St. Michael sagt mit Blick auf die gerade noch verhinderte Abschiebung: "Ich bin erschrocken darüber, dass man in Fürth so mit einer Familie umgeht, die hier eine Heimat gefunden hat. Das kann nicht sein."
Im September 2019 begann Muslim an der Altenpflegeschule Fürth eine einjährige Ausbildung zum Altenpflegehelfer. Danach will der 20-Jährige Altenpfleger lernen. Doch dafür bräuchte er eine Arbeitserlaubnis, und wenig spricht dafür, dass die Zentrale Ausländerbehörde (ZAB) sie ihm erteilen wird. "Die Sachbearbeiter signalisieren ihm immer wieder: Wir schieben dich ab, sobald wir können", sagt Sabine Arnold von der evangelischen Sinn-Stiftung aus Nürnberg, die die Familie betreut.
Muslims Anwalt hatte für diesen eine Aufenthaltserlaubnis beantragt, weil der gebürtige Tschetschene gut integriert sei. Den Antrag wies die ZAB zurück - unter anderem mit der Begründung, es sei nicht ersichtlich, dass Muslim "im Bundesgebiet sozialisiert" sei: "Sie weisen keinerlei soziales oder bürgerschaftliches Engagement auf." Muslim widerspricht: Er habe zahlreiche einheimische Freunde, betreibe Mixed Martial Arts im Verein und habe auch Kinder in der Kampfsportart trainiert.
Zurück nach Tschetschenien: Für Muslim I. ist das unvorstellbar.
Die Republik im Nordkaukasus mit Präsident Ramsan Kadyrow gilt als schlimme Diktatur und Brutstätte radikalislamischer Bewegungen. Immer wieder hört Muslim, wie Bekannte oder Verwandte dort grundlos verhaftet werden. Außerdem spricht er kaum noch Russisch und Tschetschenisch.
Die trüben Aussichten machen ihm zu schaffen. "Ich komme nach Hause und versuche zu lernen", sagt er. "Aber ich kann mir die Sachen schlecht merken. Und ich bin ständig müde, weil ich nachts schlecht schlafe." Altenpfleger gilt beim Bundeswirtschaftsministerium als "Mangelberuf Nummer Eins". In der Broschüre "Ausbildung und Beschäftigung von Flüchtlingen in der Altenpflege", die das Ministerium im Oktober 2018 herausgab, steht: "Es ist davon auszugehen, dass in den nächsten 15 Jahren in Deutschland 100.000 bis 200.000 Pflegekräfte (Vollzeit) fehlen werden."
Der 20-jährige Muslim I. würde gerne dazu beitragen, diesen beängstigenden Mangel zu lindern. Stattdessen droht ihm die erzwungene Rückkehr in ein fremdes Land, das ihn sicher nicht mit offenen Armen empfangen würde.