Verlust an Einfühlungsvermögen

Das menschliche Einfühlungsvermögen scheint immer mehr abzunehmen - ein dramatischer Verlust. Dies führt dazu, dass resonante Beziehungsverhältnisse hohler werden, rechtsradikale Kräfte Aufwertung erfahren und auch gesellschaftliche Radikalisierung immer alltäglicher wird.

Wenn das Einfühlungsvermögen der Menschen immer schwächer wird, steigt die Wahrscheinlichkeit von Entsolidarisierungserscheinungen und der Ausgrenzung vermeintlich "überflüssiger" Menschen (Flüchtlinge, Kranke, diskriminierte Gruppen).

Der Soziologe Hartmut Rosa äußert ähnliche Bedenken (Rosa, 2019, S. 714). Eine latente kollektive Erschöpfungskrise sei bereits spürbar. Gesetze und Regelungen könnten den Verlust an Einfühlungsvermögen nicht ausgleichen. Das mag abgedroschen klingen, aber neuere Studien belegen diese dramatische Entwicklung.

Laut dem "Global Risks Report 2019" des World Economic Forum ist zumindest ein Auslöser für das schwindende Einfühlungsvermögen und die zunehmende politische Destabilisierung die signifikante Zunahme von Einsamkeit weltweit.

Empathie - Grenzen und Chancen

Hinzu kommen neue Technologien, die immer mehr virtuelle Vernetzungsmöglichkeiten bieten. Dennoch fühlen sich Menschen global betrachtet immer weniger verbunden und immer stärker isoliert. Wir nehmen zwar wahr, was außerhalb unseres engen Umfelds passiert, aber wir verstehen nicht wirklich, was die Menschen bewegt.

Es geht nicht nur ums Verstehen auf intellektueller Ebene, sondern ums einfühlsame Verstehen - kurz gesagt: Empathie. Die Philosophin Monica Betzler beschreibt Empathie als einen komplexen mentalen Zustand, in dem man sich mit dem anderen "verschachtelt". Sie unterscheidet zwischen kognitiver und affektiver Empathie.

Während die kognitive Empathie lediglich die Vorstellungskraft erfordert, sich in das mentale Leben anderer hineinzuversetzen oder "sich in die Schuhe des anderen zu stellen", wie es im Englischen heißt, erzeugt die affektive Empathie einen so intensiven Gefühlszustand der anderen Person in einem selbst, dass man tatsächlich "mitfühlt".

Empathie hat einen Wert an sich: Nähe. Sie ermöglicht soziale Bindungen, die wiederum ein grundlegendes menschliches Bedürfnis sind und Kraft geben. Kinder erfahren durch die Empathie ihrer Eltern eine Wertschätzung für ihre Perspektive.

Empathie ist der Grundbaustein unserer Identitätsbildung.

Die Selbstwerdung des Menschen geschieht wie im Spiegel durch ein Gegenüber in einem selbst.

Gleichzeitig weist Frau Betzler darauf hin, dass Empathie auch Grenzen hat. Ich kann mir die konkrete Situation eines ukrainischen Soldaten, der im Schützengraben liegt, nicht ausreichend gut vorstellen.

Schlüssel guter Kommunikation

Abseits des modernen und oft leeren Begriffs der "Sensibilisierung", unter dem dringende Anliegen oft noch als Tränenseligkeit abgetan werden, stellt Empathie eine effektive Brücke zu anderen Menschen her. So kann es gelingen, Zugang zur Welt des Gegenübers zu finden und die Welt aus seiner Perspektive zu verstehen (Bondi, 2003).

Empathie zeichnet sich auch dadurch aus, dass sie kein gesichertes Wissen hervorbringt, sondern eine empfängliche Ahnung und emotionale Teilhabe ermöglicht. Erkenntnisse, die aus Empathie gewonnen werden, sind störungsanfällig. 

Das macht Empathie so schwer fassbar und manchmal lästig. Empathie ist anstrengend. Sie macht sich physisch bemerkbar und ruft eigene Emotionen hervor.

Deshalb ist gute Kommunikation so wichtig. Schulz-von-Thun sagt: "Empathie und Selbstempathie gehören zu den Schlüsseln guter Kommunikation."

Empathie bedeutet, zu verstehen, was bei meinem Gegenüber los ist, und es anzuerkennen, vielleicht sogar zu würdigen. Ein Satz wie: "Das ist mir aus dem Herzen gesprochen", kann eine enorme Wirkung zwischen zwei Menschen in einem Konflikt entfalten.

5 Tipps für eine empathische und produktive Diskussion

  1. Zuhören - Das größte Kommunikationsproblem ist, dass wir nicht zuhören, um zu verstehen. Wir hören zu, um zu antworten. Ja, aufrichtiges Zuhören ist anstrengend. Aktives Zuhören bedeutet bewusstes Hinhören, ohne den/die Gesprächspartner*in oder die Situation im Vorfeld zu kategorisieren. Es geht darum, sich auf das Verstehen zu konzentrieren und nicht auf das Antworten. Denn: "Mit welchem Ohr ich zuhöre, stellt die Weichen für die Begegnung." (Schulz-von-Thun)

  2. Argumentieren statt erklären - Belehrt euer Gegenüber nicht, sondern versucht, euren Standpunkt mit Argumenten zu begründen. Stürzt euch dabei nicht auf die Schwächen in der Argumentation des/der anderen, sondern weist sachlich auf widersprüchliche Stellen hin.

  3. Zusammenfassen und nachfragen - Um sicherzugehen, dass ihr eure*n Gesprächspartner*in richtig verstanden habt, könnt ihr wichtige Punkte zusammenfassen, indem ihr sagt: "Wenn ich dich richtig verstanden habe, meinst du, dass ..." Und fragt öfter unaufgeregt nach, wenn ihr etwas nicht verstanden habt.

  4. Sachlichkeit, Relevanz und Präzision - Es ist wichtig, Emotionen zu benennen, sie aber von den inhaltlichen Aussagen zu trennen. Zudem sollte das, was ihr sagt, für die Ausgangsfrage relevant sein. Oft wird in einer Debatte von der ursprünglichen These abgelenkt, zum Beispiel wenn es in der Klimadebatte nicht mehr um die Gestaltung des Klimawandels geht, sondern um die Berechtigung von Kritik.

  5. Humor - Ihr könnt die Ernsthaftigkeit einer Diskussion etwas entschärfen, indem ihr Witze einstreut oder auch ansprecht, dass ihr gerade sehr aufgebracht seid.

"Harmonie höherer Ordnung"

Schulz-von-Thun bringt das Ziel einer gelungenen Diskussion und eines konstruktiven Austauschs mit der Beschreibung einer "Harmonie höherer Ordnung" treffend auf den Punkt. Harmonie erster Ordnung, bei der alle ein Herz und eine Seele sind und nett miteinander umgehen, reicht nicht aus.

Stattdessen ist Harmonie höherer Ordnung gefragt, bei der die Unterschiede und Gegensätze willkommen geheißen und angesprochen werden. Diese Art des Umgangs mag weniger gemütlich und weniger nett sein, aber sie ist qualitativ wertvoller.

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