Viele Politiker – der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt gehörte auch dazu – meinen, mit der Bergpredigt könne man keine Politik machen. Da denken sie vor allem an das Gebot der Feindesliebe. Doch gerade die Feindesliebe ist nicht nur für den persönlichen Bereich ein Weg zu einem guten Miteinander. Sie ermöglicht vielmehr auch im politischen Bereich Wege zum Frieden. Feindesliebe heißt ja nicht, dass wir in Passivität erstarren und uns alles gefallen lassen.

Feindesliebe bedeutet in erster Linie, dass ich den andern, der mir feindlich gegenübertritt, nicht als Feind ansehe, sondern als einen Menschen, der in sich zerrissen ist. Feindschaft entsteht ja immer, wenn jemand etwas bei sich nicht annehmen kann und es auf mich projiziert und bei mir bekämpft. Der normale Weg ist dann, dass ich mich wehre und zurückschlage. Dann gibt es einen Machtkampf. Feindesliebe bedeutet, dass ich hinter die Projektion schaue und auf die Sehnsucht des Menschen schaue, der mich als Feind behandelt. Feindesliebe besteht zuerst in dem Glauben, dass der Feind so handelt, weil er in sich zerrissen ist, weil er nicht im Frieden ist mit sich selbst. Zugleich aber glaube ich, dass hinter diesem Verhalten die Sehnsucht steckt, gut zu sein und in Einklang mit sich zu kommen. Ich begegne dem Feind immer in der Hoffnung, dass er mit seiner Sehnsucht nach dem Gutsein in Berührung kommt und dann dieses Verhalten nicht mehr benötigt. Doch das kann durchaus bedeuten, dass ich ihm klare Grenzen setze, damit er das Böse nicht grenzenlos ausagieren kann.

Die beiden Evangelisten Matthäus und Lukas, die uns das Gebot Jesu von der Feindesliebe überliefern, deuten sie jeweils etwas anders. Bei Matthäus heißt es: "Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte." (Matthäus 5, 44 f.) Feindesliebe bedeutet also, dass wir die Sonne unseres Wohlwollens über allen Menschen aufgehen lassen. Darin ahmen wir Gott selber nach, der seine Sonne über Gute und Böse scheinen lässt. Gott gibt keinen Menschen auf.

So sollen auch wir wie Gott die Sonne unserer Liebe über allen scheinen lassen, in der Hoffnung, dass die Sonne auch im Feind Leben hervorlockt und Liebe. Und wir sollen hoffen, dass der Regen unserer guten Worte die harten Fronten aufweicht und ein Miteinander ermöglicht.

Lukas deutet die Feindesliebe anders: "Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch misshandeln." (Lukas 6, 27 f.) Alle drei Wege, die Lukas uns empfiehlt, wecken in uns die Hoffnung, dass der andere nicht in seiner Feindschaft verharrt.

Der erste Weg ist, dem andern Gutes zu tun. Ich tue das Gute nicht, damit der andere seine Feindschaft aufgibt. Aber indem ich den andern gut behandle, hoffe ich dennoch, dass das gute Handeln das Gute im andern hervorlockt.

Der zweite Weg ist, den andern zu segnen. Bei einem Kurs habe ich die Übung vorgeschlagen, sich aufrecht hinzustellen, die Hände zum Segen zu erheben und durch die Hände Gottes Segen zu dem Menschen hinströmen zu lassen, der mich verletzt hat oder der mir feindlich gegenübertritt. Eine Frau meinte, das könne sie unmöglich. Denn der Mann, an den sie denkt, hat sie so tief verletzt. Ich ermutigte sie, es einfach zu probieren. Dann hat sie eine wertvolle Erfahrung gemacht. Sie hat gespürt, dass der Segen wie ein Schutzschild war, der sie geschützt hat vor dem verletzenden Verhalten des Mannes. Und sie ist ausgestiegen aus der Opferrolle. Oft bleiben wir ja in der Opferrolle stecken, wenn uns jemand ungerecht oder verletzend behandelt. Doch dann schwächen wir uns selbst. Die Frau hat sich beim Segnen aufgerichtet, und sie konnte sich vorstellen, diesem Mann aufrechter zu begegnen. Wie wir die Begegnung mit dem andern erleben, hängt immer auch von dem Bild ab, mit dem wir ihm begegnen. Der Segen vermittelt uns das Bild: Ich begegne nicht meinem Feind, sondern einem gesegneten Menschen. Oft genug verwandelt das die Begegnung.

Der dritte Weg ist, für den Feind zu beten. Solange ich für einen Menschen bete, habe ich Hoffnung für ihn. Hoffnung ist etwas anderes als Erwartung. Ich erwarte nicht, dass der andere die Feindschaft aufgibt und wir uns gut verstehen. Ich hoffe vielmehr, dass der Feind mit sich selbst in Einklang kommt, dass er in sich selbst Frieden findet. Natürlich vertraue ich darauf, dass er dann das feindliche Verhalten nicht mehr nötig hat. Aber ich lege ihn nicht fest durch meine Hoffnung. Ich hoffe für ihn, und ich hoffe mit ihm.

Feindesliebe bedeutet nicht, dass wir uns nicht wehren gegen ein Land, das ein anderes überfällt, oder gegen Menschen, die andere beherrschen und ihnen schaden wollen. Sie bedeutet politisch keinen Verzicht auf Waffen, um sich gegen Aggressoren zu wehren. Aber sie bedeutet, dass ich nicht im Feindesdenken stecken bleibe, dass ich mich trotz der momentanen Feindschaft auf dem Grund meiner Seele eins fühle mit dem Feind. Und ich hoffe, dass dieses grundsätzliche Einssein auf dem Grund unserer Seelen allmählich ins Bewusstsein steigt und ein neues Miteinander schafft. Es ist eine spirituelle Erfahrung, dass wir auf dem Grund unserer Seele eins sind mit allen Menschen. Dieses Einssein hebt die Konflikte nicht auf, aber es relativiert sie. An dieses Einssein erinnern uns die Worte Jesu im Matthäusevangelium von dem Gott, der seine Sonne über Gute und Böse scheinen lässt und der es regnen lässt über Gerechte und Ungerechte.

Wenn wir Gott in unserer Feindesliebe nachahmen, dann werden wir "vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist". (Matthäus 5, 48) Das griechische Wort teleios bedeutet nicht perfekt sein, sondern ganz sein, vollendet. Dieses Ganzsein bedeutet aber – und das betont der Psychoanalytiker C. G. Jung immer wieder –, dass wir uns selbst annehmen mit allen Schattenseiten, die wir in uns wahrnehmen. Nach C. G. Jung ist die Feindesliebe nur möglich, wenn wir zuerst den Feind in uns selber lieben. Wir müssen uns zuerst aussöhnen mit all dem Feindseligen, das wir in unserer Seele vorfinden, mit den aggressiven und mörderischen Tendenzen in uns. Die Liebe zum Feind in uns ist oft schwerer als die Liebe zum Feind außerhalb. Daher gilt das Wort Jesu von der Sonne, die Gott über Gute und Böse scheinen lässt, auch für uns selbst. Es gilt, die Sonne unseres Wohlwollens und die Sonne der göttlichen Liebe scheinen zu lassen über allem, was in uns ist, auch über das Dunkle und Bedrohliche in uns, auch über das Böse. Dann wird die Liebe das Dunkle in uns erhellen und das Böse verwandeln.

Dass die Feindesliebe eine politische Dimension hat, ist mir aufgegangen, als ich vom Anschlag der islamistischen Terroristen auf das World Trade Center in New York erfuhr. Da kamen in mir auch Hassgefühle auf, Fantasien, wie diese Terroristen vernichtet werden sollten. Doch dann spürte ich: Wenn ich den Hass mit Gegenhass beantworte, verschlechtere ich die Situation nur, dann geht es immer nur um Gewalt und Gegengewalt. Ich brauche die Feindesliebe als die Bereitschaft, auch in den Terroristen die Sehnsucht nach dem Guten zu erkennen. Dann werde ich das richtige Maß finden zwischen der Abwehr des Bösen durch militärische Mittel und der Hoffnung auf Versöhnung mit Menschen, die sich im Bösen verstrickt haben, weil sie sich nicht gehört und gesehen fühlten.

Feindesliebe ist nicht Pazifismus, sondern die Fähigkeit, bei allen politischen Maßnahmen immer auf Versöhnung zu hoffen, auf die Verwandlung der Feinde in Freunde.

Kommentare

Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.

Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.

Anmelden