"Ins Innre der Natur" – O du Philister! –
"Dringt kein erschaffner Geist."

Mich und Geschwister
Mögt ihr an solches Wort nur nicht erinnern;
Wir denken: Ort für Ort sind wir im Innern.

"Glückselig, wem sie nur die äußre Schale weist!"

Das hör ich sechzig Jahre wiederholen
Und fluche drauf, aber verstohlen;
Sage mir tausend tausendmale:
Alles gibt sie reichlich und gern;
Natur hat weder Kern noch Schale,
Alles ist sie mit einem Male;
Dich prüfe du nur allermeist,
Ob Du Kern oder Schale seist?

(J. W. Goethe, 1821)

Dieses bekannte Gedicht Goethes wird häufig nur mit den hier farblich abgesetzten Versen zitiert, die aber gerade nicht von Goethe stammen, sondern von dem Schweizer Arzt Albrecht Haller (1708-1777). Goethe hat sein Gedicht verfasst, um aufs Heftigste dagegen zu polemisieren.

Diese Aussage Hallers ist ihm kein Zeichen demütiger Selbstbescheidung des Forschers, sondern philisterhafte Engstirnigkeit. Es ist eben nicht glücklich zu preisen, wer an der "Außenseite" der Natur stehen bleibt, und es ist auch kein Zeichen von Frömmigkeit oder Ehrfurcht, sondern ein Mangel an Wahrnehmungsfähigkeit, nicht auf das Ganze der Natur aus zu sein.

Mystik für alle

Der Gegensatz zwischen außen und innen stammt nicht aus der Natur, sondern rührt daher, wie wir uns der Natur nähern. Goethe plädiert dafür, dass wir uns von der Betrachtung der äußeren Details leiten lassen sollen, um so "Ort für Ort" in innerer Schau eine Perspektive zu gewinnen, die auf eine umfassende Einheit hinter aller Verschiedenheit abzielt. Damit hat er, beabsichtigt oder nicht, den Weg zu einer allen zugänglichen Naturmystik gewiesen.

Lassen Sie sich einladen zu einer einfachen Übung: Schauen Sie sich irgendeine ganz gewöhnliche Blume aus der Nähe an. Achten Sie der Reihe nach auf alle kleinen Details – heutige Digitalfotografie gestattet da unerwartete Einblicke. Lassen Sie sich gefangen nehmen und staunen Sie – über die Schönheit, vielleicht auch über unvermutete Zweckmäßigkeit und Organisation.

Kunstwerk mit Botschaft

Wenn Sie sich Zeit lassen, kann es sein (aber muss nicht!), dass der "Gegenstand" vor Ihnen nicht nur zum natürlichen Kunstwerk wird, sondern eine Botschaft an Sie enthält: Dieses kleine Pflänzchen stellt sich Ihnen nicht nur dar, sondern zeigt Ihnen, wie es mit all den von Ihnen entdeckten Details sein Dasein verwirklicht.

Da kann das Staunen zur Ergriffenheit werden: Die Seinskraft dieses Lebewesens umgreift Ihr eigenes Dasein. Sie werden nicht einfach eins mit ihm, aber Sie lassen sich von der Wahrnehmung dieses Lebewesens auf ein Ziel hin ausrichten, das jenseits unser selbst ist und uns doch miteinander als Geschöpfe verbindet.

Sternennacht und Bergpanorama

Wie gesagt, eine derartige Erfahrung ist nicht religiösen Spezialisten vorbehalten, sondern eigentlich jedem Menschen möglich, wenn auch nicht alle in gleicher Weise dafür empfänglich sein mögen. Das Erleben eines erhabenen Bergpanoramas oder einer sternklaren Nacht kann zu ganz ähnlichen Erfahrungen führen.

Eines sollten wir allerdings nicht tun: uns durch "wissenschaftliche" Einwände dagegen verunsichern lassen. Der Wert solcher Erfahrungen

hängt nicht von ihrer Beweiskraft ab.