Innehalten und nachdenken
Es war irgendwann 2005, als Benita Stolz bei einem Städteurlaub in Hamburg in einer kleinen Seitenstraße innehielt. Sie stand zum ersten Mal vor einem Stolperstein, einer kleinen Messingtafel des Künstlers Gunter Demnig. Die erfüllte genau ihren gewünschten Zweck: Stolz blieb stehen, las die Inschrift und dachte nach. Die Steine erinnern an deportierte, verschleppte und ermordete Opfer der Nazis - indem sie vor der letzten frei gewählten Wohnadresse im Trottoir liegen. Stolz nahm die Idee mit nach Würzburg. Keine Stadt in Bayern hat inzwischen mehr Stolpersteine verlegt.
75.000 Stolpersteine in ganz Europa
Dass das Kunstprojekt Stolpersteine mit mehr als 75.000 Steinen in ganz Europa gerade auch in Würzburg solch ein Erfolg werden würde, da war Stolz anfangs gar nicht so sicher. "Ich habe zuerst Kontakt mit Josef Schuster aufgenommen", erzählt Stolz. Der war damals zwar noch nicht Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland - aber Präsident des bayerischen Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden.
"Ich war von Demnigs Projekt von Anfang an begeistert", sagt Schuster.
"Sobald man so einen Stein sieht, weiß man, hier hat ein Opfer des NS-Regimes gelebt."
Zwangsarisierung durch Neckermann
Stolz - damals selbst Grünen-Stadträtin in Würzburg - erstellte Dossiers über das Kunstprojekt, über bereits verlegte Stolpersteine im benachbarten Kitzingen, warb bei den anderen Fraktionen um Zustimmung und bekam schließlich einen nahezu einstimmigen Stadtratsbeschluss. Unter den ersten 18 Steinen, die am 17. Juli 2006 verlegt wurden, waren auch jene der Familie Ruschkewitz. Die jüdischen Kaufleute wurden von den Nazis zwangsenteignet, profitiert hat davon unter anderem auch Josef Neckermann, der spätere Gründer und Chef des gleichnamigen Versandhauses.
Ein Stein pro 213 Einwohner
Etwa zwei Mal pro Jahr organisiert der Arbeitskreis Würzburger Stolpersteine eine Verlegung, gut 600 Steine gibt es dort bereits. Damit gehört Würzburg zu den zehn deutschen Städten mit den meisten Stolpersteine überhaupt. Natürlich liegen in Großstädten wie Berlin (8.765) oder Köln (2.300) absolut mehr Stolpersteine, gemessen an der Zahl der Einwohner gibt es allerdings in keiner anderen dieser Städte mehr der kleinen Gedenksteine:
Auf etwas mehr als 213 Einwohner kommt in Würzburg ein Stolperstein, in Berlin sind es mehr als 418 Einwohner, in Köln mehr als 472.
Jüdische Gemeinde Würzburg
Für diese große Akzeptanz des Projekts in Würzburg gibt es laut dem Historiker Roland Flade gleich mehrere Gründe. "Dass kurz nach der Shoah in Würzburg wieder eine jüdische Gemeinde existierte und diese ab dem Jahr 1956 mit David Schuster einen Vorsitzenden hatte, der bewusst den Finger in die Wunde gelegt und an die NS-Gräueltaten erinnert hat, war sicher wichtig", sagt Flade. Zudem gibt es in Würzburg einen der größten Bestände an Gestapo-Akten überhaupt. Die NS-Gräuel sind gut dokumentiert und wurden seit den 1980ern wissenschaftlich aufgearbeitet.
Poet und Antisemitismusforscher
"Darüber hinaus kamen zwei wichtige jüdische Menschen zufällig aus Würzburg", sagt Flade. Zum einen Jehuda Amichai, einer der berühmtesten Dichter Israels, der die NS-Zeit in Würzburg in sein Werk einfließen ließ. Zum anderen Herbert Arthur Strauss, der spätere Gründer des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, der auch in Würzburg gewirkt hatte. Im Jahr 1987 kam der Sensationsfund der "Würzburger Judensteine" hinzu. Beim Abriss eines Gebäudes waren überraschend 1.500 jüdische Grabsteine aus dem Mittelalter im Gemäuer gefunden worden.
Engagement gegen das Vergessen
"Die Erinnerungskultur in Würzburg ist sehr lebendig, sie ist außergewöhnlich stark in der Breite der ganzen Stadtgesellschaft verankert", sagt Flade. Auf diese breite Basis konnte Benita Stolz mit ihrer Idee für Stolpersteine in Würzburg zurückgreifen, ist der Historiker überzeugt.
Zentralratspräsident Josef Schuster sieht das ganz ähnlich: "Die Stolpersteine in Würzburg sind Ausdruck eines breiten bürgerschaftlichen Engagement gegen das Vergessen."
Jede Verlegung stehe unter einem besonderen Motto und werde von verschiedenen Veranstaltungen begleitet, erläutert er.
Steine oft einziger Ort der Trauer
Eine dieser Veranstaltungen war es auch, die den nachhaltigsten Eindruck auf Schuster gemacht hat. In der Feuerwehrschule habe sich die Würzburger Feuerwehr zu ihrem damaligen Fehlverhalten in der Reichspogromnacht am 9. November 1939 bekannt. "Und natürlich sind alle Begegnungen mit Nachfahren von NS-Opfern bei den Verlegungen besonders bewegend", sagt Schuster. Auch für Stolz sind das die eindrücklichsten Erlebnisse: "Viele NS-Opfer haben keine Grabstätten. Für die Nachfahren sind diese Steine oft der erste und einzige Ort der Trauer. Fast wie ein Grabstein."