Am ersten Tag, an dem die KZ-Gedenkstätte Dachau nach dem Corona-Lockdown wieder ihre Türen öffnet, sperrt Klaus Schultz das dicke Vorhängeschloss am Eisentor zum Kloster Karmel auf und schaut über das Gelände. Die Lagerstraße, gesäumt von hohen Pappeln, liegt verwaist.
900.000 Besucher hat die Gedenkstätte normalerweise im Jahr, die meisten sind Schulklassen und ausländische Touristen - doch die Schulen nehmen gerade erst wieder den Unterricht auf, und an Reisen ist noch nicht zu denken. "Da kommt erstmal niemand", sagt Schultz und stapft durch den groben Kies hinüber zur Versöhnungskirche, die sich in den Boden duckt.
KZ-Gedenkstätte Dachau in Corona-Zeiten
Für Schultz ist die menschenleere Gedenkstätte ungewohnt. Rund 1.400 Gruppen hat er in seinen 23 Jahren als Diakon der Versöhnungskirche über das Gelände geführt. Etwa 33.000 Menschen haben ihm zugehört, wenn er von den Opfern und den Überlebenden des NS-Terrors berichtet hat und auch von jenen, die zwar alles sehen konnten, aber nichts wissen wollten. "Wo war Gott? Diese Frage stellt sich an so einem Ort", sagt Klaus Schultz.
Seinen Glauben hat die Zeit in Dachau nicht zerstört, wohl aber immer wieder verunsichert. Er sei froh, Menschen kennengelernt zu haben, "die das gelebt haben, was man von Christen erwartet, auch an so einem Ort". Es sei ihm wichtig gewesen, neben all der Folter und dem Terror auch immer vom Überleben zu erzählen.
"Widerstand bedeutet nicht immer Tod", sagt der Diakon.
Und das ist keine Relativierung der Schrecken, sondern eine Ergänzung, die vielleicht gerade den jungen Leuten in seinen Führungen Mut macht, selbst aufzustehen, wenn es nötig wird.
Jahrzehnte in Dachau
1997 wechselte Klaus Schultz von der Jugendarbeit im Prodekanat München-West nach Dachau. "Ich wollte etwas mit Menschen machen und war immer politisch interessiert", erläutert der 64-Jährige seine Beweggründe.
Selbst Ende der 1990er-Jahre sei die KZ-Gedenkstätte noch umstritten und gesellschaftlich nicht anerkannt gewesen. "Hier zu arbeiten, war ein Bekenntnis", erinnert sich Schultz, der den Bau des Jugendgästehauses Dachau mit vorantrieb und später auch dem Initiativkreis für das NS-Dokumentationszentrum angehörte. Der Bogen von der Erinnerung zur Gegenwart ist ihm wichtig:
"Jedes Gedenken muss immer in der Frage münden: Was bedeutet das für uns heute?"
Zu den Lieblingsprojekten des dienstältesten Mitarbeiters der Versöhnungskirche gehören deshalb das Gedächtnisbuch und der Erinnerungstag im deutschen Fußball. Aus kleinen Anfängen entstand der Dauerbrenner mit Ausstrahlung: In über 250 Biographien hat das Gedächtnisbuch seit 1999 vergessene Dachauer Schicksale wieder ans Licht geholt.
Auch die Initiative "!Nie wieder - Erinnerungstag im deutschen Fußball" brachte Klaus Schultz mit seinen Verbündeten in der Versöhnungskirche im Januar 2004 zum Laufen. "Die NS-Geschichte war damals bei den Vereinen kein Thema", sagt der Diakon. Den verfolgten FC-Bayern-Präsidenten Kurt Landauer kannte niemand, "und es wollte ihn auch keiner kennen".
Initiative "!Nie wieder"
16 Jahre später gehören Gedenkstätten-Rundgänge für Fußball-Fangruppen zum Angebot der Versöhnungskirche, an den Stadiondurchsagen rund um den Holocaust-Gedenktag beteiligen sich alle Bundesligavereine, und die Initiative "!Nie wieder" ist mit dem Förderpreis der "Münchner Lichtblicke" ausgezeichnet worden.
Klaus Schultz ist Praktiker, und deshalb klingt auch sein Rezept zum Erreichen solcher Ziele praktisch: "Innere Haltung zur Idee, nachhaltig dranbleiben, Dinge nicht persönlich nehmen, den gangbaren Weg wählen", zählt er trocken auf.
Zu den stärksten Erinnerungen an seine Zeit in Dachau gehört eine Frau aus einer Gruppe der Offenen Behindertenarbeit, die er über das Gelände führte. "Sie hat gefragt: Wo sind die Gräber? Und wo waren die Eltern?", erinnert sich Schultz.
Das bringe das Ziel von Erinnerungsarbeit in zwei einfachen Sätzen auf den Punkt:
"Wir brauchen Orte, an denen wir uns an die Opfer erinnern. Und wir müssen fragen, wer Verantwortung trägt."
Letzteres sei angesichts antisemitischer und fremdenfeindlicher Anschläge so aktuell wie lange nicht. Den Bodensatz von Rassismus und Ausgrenzung werde es immer geben, sagt Schultz illusionslos.
"Aber dass diese Menschen jetzt wieder einen Resonanzboden haben und bei ihren Taten glauben, sie hätten eine öffentliche Unterstützung, das ist beängstigend." Das zeige, wie nötig eine Erinnerungsarbeit sei, wie sie an der Versöhnungskirche und in der KZ-Gedenkstätte stattfinde.
"Es ist nicht vorbei", sagt Klaus Schultz.