Als Zehnjähriger erlebte Fritz Koeniger vor 75 Jahren hautnah die Ankunft der US-Truppen im KZ Dachau. Mit seinen Eltern und sechs Geschwistern wohnte der Junge seit 1939 im Werksgebäude der Amperwerke, für die sein Vater arbeitete – am Westrand des KZ Dachau, rechterhand der Lagerbereich der SS-Leute, linkerhand die Gleise, auf denen die Züge mit Deportierten zur Rampe rollten.
Das Lager prägte Fritz Koenigers Kindheit. "Wenn wir sonntags von der Messe nach Hause kamen, standen oft Züge auf den Gleisen", erinnert sich der 85-Jährige. Durch die Luken der Waggons habe er die ausgemergelten Gestalten gesehen.
"Oft ließen die Häftlinge einen Blechnapf, mit einem Stein beschwert, an einer Schnur hinunter und versuchten, Schnee vom Boden zu holen",
beschreibt Koeniger das Bild, das sich in seiner Seele eingebrannt hat. Er habe immer den Impuls gehabt, hinzulaufen und die Büchse mit Schnee zu füllen. "Aber ich habe mich nicht getraut – es standen ja überall SS-Posten", sagt er.
Koenigers Vater war kein Parteimitglied. Er sei gläubiger Katholik und beim Kolpingwerk engagiert gewesen, dazu die sieben Kinder, "das war wohl ein gewisser Schutz", sagt der Sohn. Zudem wurde er als Verantwortlicher für die Stromversorgung der Stadt und auch des Lagers Dachau als "kriegswichtig" eingestuft und musste deshalb nicht an die Front. Fritz selbst konnte sich als Hüter der kleineren Geschwister der Mitgliedschaft in der Hitlerjugend entziehen.
So erlebte er das NS-Regime hautnah, aber fast frei von Ideologie: Der Vater hörte zuhause heimlich den Feindsender BBC, um zu erfahren, wie es um die Front in Rumänien stand, wo der älteste Sohn der Familie kämpfen musste und schließlich 1944 starb.
Und auf dem Weg zur Schule sah Fritz jeden Tag, wie die KZ-Häftlinge geschunden wurden.
"Wir Kinder von den Amperwerken durften mit dem SS-Bus zur Schule fahren", sagt Koeniger. Der Bus habe im Wohnbereich des Lagers die Kinder der SS-Familien eingesammelt, dann das ganze KZ gequert, um schließlich in die Alte Römerstraße Richtung Dachau abzubiegen.
"Ich habe die Häftlinge in ihrer schlechten Kleidung und den Pantoffeln gesehen, wie sie bei Regen und bei Hitze auf den Kräuterwiesen schuften mussten, und daneben die Kapos, das war schlimm, das hat mir in der Seele wehgetan", erinnert er sich.
Wie hat sich die Familie zu all dem verhalten, was ihr jeden Tag so deutlich vor Augen stand?
"Durch die Haltung unserer Eltern war uns Kindern klar, dass das Unrecht war",
sagt Fritz Koeniger heute. Sie seien Ministranten gewesen, "wir wurden christlich erzogen und sind im Widerstand zu den Nazis aufgewachsen." Doch der Weg zwischen persönlicher Haltung und Schutz der Familie muss für seinen Vater schmal gewesen sein.
Fritz Koeniger erinnert sich an eine beispielhafte Szene: "Einmal mussten sechs oder sieben Häftlinge in der Nähe der Amperwerke Löschbrunnen graben, sechs Meter tief, mit Schaufeln und Händen, bewacht von einem SS-Posten, der sie anbrüllte, wenn ein Auto mit höheren Funktionären vorbeifuhr. Wir Kinder waren draußen und haben beim Stall die kleinsten Kartoffeln für die Hasen gesotten.
Da kommt der Vater, sucht die schönsten Kartoffeln aus und stellt sie den Häftlingen in einem Topf hin.
Jetzt kam der spannende Moment: Lässt der Posten das zu?" Der alte Herr schweigt einen Moment und die Spannung von damals hängt wie eingefroren in der Luft. Koeniger atmet aus. Ja, sagt er, der Posten habe weggeschaut und die Häftlinge konnten die Kartoffeln essen.
An den 28. April 1945 erinnert sich Fritz Koeniger noch 75 Jahre später, als sei es gestern gewesen. "Wir kamen morgens aus dem Luftschutzkeller in die Wohnung im Dachgeschoss und sahen, dass wieder ein Zug vor dem Haus stand", berichtet der Zeitzeuge. Der Vater sei hinausgegangen und bleich zurückgekehrt.
"Er hat an diesem Tag kaum geredet und den ganzen Tag mit einer Gießkanne Wasser hinausgetragen",
erzählt Fritz Koeniger, der das Geschehen vom Fenster aus verfolgte.
Viel später recherchierte der Sohn die Zahlen zu dem berüchtigten "Todeszug" aus Buchenwald: 4480 KZ-Häftlinge seien in 45 Waggons in Weimar losgefahren, doch lebend kamen nur 816 an. Ihnen brachte der Vater Wasser. Noch heute hört Fritz Koeniger das Keifen der Hausnachbarn, zu denen auch die Tochter des Amperwerkedirektors gehörte, die mit einem SS-Mann verheiratet war:
"'Der bringt uns noch den Typhus rein', haben sie über den Vater geschimpft und angefangen, das Treppenhaus zu schrubben."
Die Lager-SS befand sich angesichts der anrückenden US-Truppen in Auflösung. Erst um 15 Uhr seien Traktoranhänger, wie immer gezogen von KZ-Häftlingen, geschickt worden, "die die fast Toten, die noch ein bissl gelebt haben, abgeholt haben".
Abends dann habe die Mutter aus weißen Laken eine Fahne genäht und die Eltern hätten diskutiert, wann der richtige Zeitpunkt wäre, sie zu hissen, erinnert sich der Sohn. Nicht zu früh, um nicht von letzten SS-Leuten erschossen zu werden – und nicht zu spät, bevor die US-Soldaten ankämen. Die Nacht und den halben Sonntag hätten die Hausbewohner im Luftschutzkeller gewartet. Gegen 13 Uhr habe die Mutter den Entschluss gefasst, die Fahne aufzuhängen. Eine verwitwete Frau aus der Nachbarschaft begleitete sie.
"Wir haben solche Angst gehabt, ob sie heil wiederkommt",
erinnert Koeniger sich.
Der Vater indes wartete in seinen Diensträumen auf die Amerikaner, um das Amperwerk zu übergeben. Am Nachmittag des 29. April kamen schließlich die Truppen aus Westen an – und stießen als erstes auf den Zug voller Leichen. In der Annahme, dass die Amperwerke Teil der Lagerverwaltung seien, stürmten sie das Gebäude und nahmen Koenigers Vater mit. Zusammen mit den verbliebenen SS-Leuten wurde er im Lager verhört.
"Mein Vater konnte keinen Pass vorzeigen, und sie glaubten ihm nicht, dass er kein SS-Mann sei",
berichtet Fritz Koeniger. So stellten ihn die GIs zu den SS-Leuten, die später beim als "Dachau-Massaker" bekannt gewordenen Racheakt erschossen wurden.
Doch kurz davor habe ein GI den Vater noch einmal befragt und schließlich dessen Brieftasche untersucht. Dort fand der Soldat ein gefaltetes Liedblatt, das der Vater als eifriger Kirchenchorsänger zum Üben für die Maiandacht bei sich trug: "‘Ein Mutterherz hab ich gefunden‘, dazu die Noten und auf der Vorderseite ein Madonnenbild", beschreibt Fritz Koeniger. "Da hat der Soldat den Vater auf die andere Seite gestellt", sagt der alte Herr und seine Stimme bricht für einen Moment.
Der Krieg und das Lager ließen Fritz Koeniger auch nach 1945 nicht los. Er studierte Sozialarbeit und kümmerte sich in Ingolstadt und Landshut um jene "Displaced Person", die der Krieg heimatlos und ohne Chance auf Rückkehr ausgespuckt hatte. Später baute er die Caritas Dachau auf und wurde 1970 zum Diakon geweiht. Doch die Erinnerung an seine Kindheit neben dem KZ holt ihn immer wieder in seinen Träumen ein.
Oft hätten er und seine Geschwister erlebt, wie die Nazis nach einem Ausbruchsversuch aus dem KZ nach den Häftlingen fahndeten. "Dann kamen die geschniegelten SS-Männer mit ihren blanken Stiefeln, den Peitschen und den scharfen, kläffenden Hunden durch unseren Garten", erinnert Koeniger sich schaudernd.
Die Ausbruchsversuche seien trotz des weiten Auenlands westlich des KZ zu Scheitern verurteilt gewesen. "Wenn ich in Dachau türme, komme ich nicht in Frankreich raus", sagt der Augenzeuge trocken. Und wenn sich der Lärm nächtlicher Suchaktionen in seine Träume drängte, habe er als kleiner Junge plötzlich immer Angst gehabt, dass der Geflüchtete unter seinem Bett liegen und im nächsten Moment ein SS-Mann mit Kampfhund in seinem Kinderzimmer stehen könnte.
"Dieser Moment, wach zu werden, das Licht anzumachen, unters Bett zu schauen – das war ein innerer Kampf für mich",
erinnert sich Fritz Koeniger. Noch heute habe er solche Träume, wenn er als Zeitzeuge viel über die Vergangenheit spreche.
An den Jahrestagen der KZ-Befreiung jedoch überwältige ihn neben all der Erinnerung an das Leid der Häftlinge vor allem die "große Dankbarkeit, dass der Vater wieder heimgekommen ist".
Wenn er die Bilder von der Erschießung der SS-Leute sehe, könne er es heute noch manchmal kaum glauben. Eine Rettung in letzter Sekunde, der Muttergottes sei Dank. "Das klingt alles so fromm", sagt der alte Herr fast hilflos, "aber es war so."