Frau Knobloch, Sie sind 87 Jahre alt, Ihre Tage sind voll mit Aufgaben und Terminen - trotzdem sehen Sie immer topgestylt aus. Wie machen Sie das?

Charlotte Knobloch: Erst mal Dankeschön! Außer meinem Friseur habe ich niemanden, der sich mit meinem Styling befasst. Das mache ich schon noch selbst. Das Alter ist, glaube ich, auch eine Einstellungssache. Ich bin eine große Optimistin und freue mich zum Beispiel jeden Morgen über mein Tagesprogramm. Das muss man befolgen, das ist sehr wichtig. Man soll nicht zu Hause allein vorm Fernseher sitzen, sondern soll - wenn es die Gesundheit erlaubt - raus aus dem Haus, unter Leute gehen und vorhandene Angebote nutzen. Sei es Sport oder Kultur.

Also halten Sie sich fit?

Knobloch: Leider nicht, ich müsste da viel mehr tun. Es gibt so viele Dinge, die ich tun sollte für meine Gesundheit: Wandern, Gymnastik, Schwimmen. Aber dazu habe ich keine Zeit. Mit Tagesprogramm meine ich: Meine Arbeit als IKG-Präsidentin steht im Vordergrund. Ich möchte da noch einige Dinge, die die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft betreffen - etwa im Erziehungs- oder Seniorenbereich - angehen.

Was treibt Sie an?

Knobloch: Zeiten ändern sich, Menschen ändern sich. In jeder Generation gibt es andere Ideen und Vorstellungen. Da muss man mitgehen. Und dieses Mitgehen erfordert sehr viel persönlichen Einsatz und Verständnis. Jetzt haben wir zum Beispiel ein Jugendparlament gegründet, um die Jugendlichen mehr an die jüdische Gemeinde zu binden.

Heutzutage steht die Religion bei den Jugendlichen nicht mehr an erster oder zweiter Stelle ihrer Interessen. Das ist leider genauso wie bei den Christen.

Es ist natürlich nicht selbstverständlich, dass eine 87-Jährige noch so viel Power hat. Mögen Sie das Alter?

Knobloch: Das Alter hat den Vorteil, dass man aus vielen Erfahrungen schöpfen kann. Und der Nachteil des Alters ist, dass man vielleicht doch öfter seinen Arzt aufsuchen muss, was man all die Jahre zuvor nicht gekannt hat. Das Alter ist heutzutage, wenn man es sich gesundheitlich leisten kann, eine Zeit, die man gerne erlebt. Ich habe inzwischen schon drei Urenkelkinder, das jüngste ist gerade ein halbes Jahr alt. Die Kleinen aufwachsen zu sehen, ist eine große Freude.

Sie haben Ihre Familie angesprochen: Insgesamt gibt es drei Kinder, sieben Enkel und eben drei Urenkel, die in aller Welt verstreut sind. Haben Sie Angst vor dem Alleinsein?

Knobloch: Ich bin ein großer Familienmensch. Es tut mir natürlich manchmal leid, dass alle woanders leben. Aber ich habe gute Freunde, die mir sehr schön die Familie ersetzen können. Bis jetzt habe ich also keine Angst vor dem Alleinsein. Wenn man gesund ist - und das ist die Voraussetzung -, kann man sich das Alleinsein verschönern. 

Wenn man sich Ihre Biografie ansieht, ging es beruflich in den 1980er Jahren richtig los. Über die Zeit davor weiß man relativ wenig.

Knobloch: Ich fange mal von vorn an:

Ich war ja ein Einzelkind und habe darunter sehr gelitten. Abgesehen von all den anderen Dingen natürlich, die wir unter den Nationalsozialisten erleiden mussten. Ich wollte jedenfalls immer Schwestern und Brüder haben. Aber das waren die Illusionen eines Kindes. Das war ja wegen unserer Verfolgung in der NS-Zeit nicht möglich.

Erst mit 14 Jahren konnte ich mein Leben selbst mit in die Hand nehmen. Bald darauf habe ich meinen Mann kennengelernt, geheiratet und dann sind unsere Kinder auf die Welt gekommen. Unsere Auswanderungspläne in die USA waren damit vom Tisch. Da ich selbst keine richtige Ausbildung genießen konnte, wollte ich das natürlich unbedingt für meine Kinder. Ich war vollauf damit beschäftigt, die drei bei der Stange zu halten. Gott sei Dank haben sie alle ihren beruflichen Weg sehr gut gefunden. Als sie mich dann langsam nicht mehr gebraucht haben, habe ich mit meinen Tätigkeiten in der jüdischen Gemeinde begonnen. 

Für sich selbst hätten Sie sich eine bessere Ausbildung gewünscht. Was wären Sie gern geworden?

Knobloch: Mein Vater war Anwalt. Seine Akten fand ich immer sehr interessant. Ein Jurastudium hätte mich von daher schon sehr begeistert. Aber dafür haben einfach die Grundlagen gefehlt. Durch unsere Flucht hatte ich einfach zu viele Lücken in der Schule. Da ich kein Jura studieren konnte, habe ich immer nach etwas gesucht. All meine Ämter sind wohl in der Tat der Ersatz für einen Wunsch, dem ich nicht nachkommen konnte.

Bereuen Sie es heute, nicht doch in die USA ausgewandert zu sein?

Knobloch: Nein, im Gegenteil. Ich bin ein innerlicher religiöser Mensch.

Das positive Schicksal meiner Familie ist uns von oben gegeben. Wir hatten ja ganz andere Pläne, nun haben wir eine große Familie und familiäre Normalität. Das freut mich sehr. Vor allem ist es mir sehr wichtig, dass ich viel dazu beitragen konnte, dass das Judentum hier wieder eine feste Heimat hat.

Sie haben Ihre Kindheit angesprochen: Viele NS-Zeitzeugen haben jahrzehntelang nicht über ihre Vergangenheit gesprochen. Wie war das bei Ihnen? Sie mussten ja den Abtransport Ihrer Großmutter ins KZ miterleben, haben die Pogromnacht 1938 in München erlebt, mussten sich dann vor den Nazis jahrelang in Franken verstecken...

Knobloch: Wir haben alle nicht darüber gesprochen. Wir wollten von unseren Kindern nicht den Vorwurf hören: Wenn das alles so passiert ist - warum seid Ihr in dieses Land zurückgekommen? Diesen Vorwurf wollte nicht nur ich nicht hören, sondern keine Familie. Es tut natürlich auch sehr weh, über bestimmte Dinge zu sprechen, wenn etwa Menschen miterleben mussten, wie ihre Verwandten umgebracht wurden. Auf der anderen Seiten waren die Täter, die auch nicht gesprochen haben. Durch unser Schweigen haben wir lange Zeit in einem selbstgewählten Ghetto gelebt.

Wann war der richtige Zeitpunkt dann da?

Knobloch: Das werde ich nie vergessen. Als der Film "Shoa" (1985) rauskam. Da hat sich was bewegt - auf der Täter- und auf der Opferseite. Plötzlich ist man aufeinander zugegangen. Ganz langsam, das ging nicht von heute auf morgen. Beide Seiten haben sich oben auf der Brücke getroffen und die Hände gegeben.

Ein sehr schönes Bild, das derzeit leider ins Wanken gerät. Antisemitismus ist wieder salonfähig geworden, Rabbiner werden verprügelt oder Synagogen angegriffen. Kommt Ihr Optimismus da nicht an seine Grenzen?

Knobloch: Die Lage ist sehr ernst.

Ich habe mir nie vorstellen können, dass ich Antisemitismus in dieser Form noch mal erleben muss. Dass sich mit der AfD eine Partei etabliert, die Holocaust-Vergessen und Antisemitismus in den Vordergrund stellt und damit auch noch eine enorme Zahl von Anhängern findet.

Jeden Tag erzählt mir jemand aus der jüdischen Gemeinschaft, dass er überlegt, Deutschland zu verlassen. Aber ich glaube nicht, dass es so weit kommt. Auch dieses Gewitter wird vorbeiziehen. Aber es dauert schon so lange an und ist schon so weit fortgeschritten, dass mein Optimismus vielleicht doch infrage gestellt ist. Ich habe immer gesagt: Das Judentum darf sich nicht über den Holocaust definieren. Und wenn man uns jetzt wieder in eine Ecke stellt und uns zu Opfern macht, tut uns das nicht gut.

Wo sehen Sie Deutschland in dieser Hinsicht in zehn Jahren?

Knobloch: Zuallererst: Der Antisemitismus ist nicht in Deutschland erfunden worden. Er ist leider in jedem europäischen Land vorhanden. Und leider ist die Europäische Union zu spät aufgewacht, um das Problem anzugehen. Wie wir den Weg bis 2030 positiv beschreiten sollen, ist für mich nicht ganz klar. Momentan brauchen wir uns über die politische Einstellung der gewählten Demokraten keine Sorgen machen. Aber ich hoffe, dass die Volksparteien wieder die Oberhand gewinnen und die AfD ihren Höhepunkt überschritten hat.

Ich kann nur hoffen, dass sich die Menschen genau überlegen, wem sie ihre Stimme geben. Wenn ein AfD-Vorsitzender den Holocaust als Vogelschiss bezeichnen darf, das unter Meinungsfreiheit fällt und es auch noch Menschen gibt, die solche Attacken unterstützen, dann kann ich für 2030 keine positive Nachricht geben.