Der Medienethiker Alexander Filipović ist davon überzeugt, dass die großen Plattformen stärker reguliert werden müssen. Andererseits sollten Journalisten auch kreative Wege finden, um zu ihren Leserinnen und Lesern zu kommen. Warum es Medienethik braucht und welche Themen aktuell relevant sind, erklärt er im Podcast "Ethik Digital".
Wie sind Sie zur Medienethik gekommen?
Filipović: Bei mir war das der Schnittpunkt von zwei Studienfächern, nämlich die katholische Theologie, wo mich insbesondere die ethischen Fächer interessiert haben, und die Kommunikationswissenschaft. Ich habe beides sehr, sehr gerne studiert. In der christlichen Sozialethik hat mich immer ein kleines bisschen gestört, dass die soziale Empirie und die Gesellschaftstheorie nicht so sehr im Mittelpunkt standen. Und in der Kommunikationswissenschaft hat mich gestört, dass die normativen Fragen und die hermeneutischen Fragen, also die geisteswissenschaftlichen Fragen, eigentlich zu wenig Berücksichtigung erfahren. Und dann habe ich relativ früh zur Medienethik gefunden.
Warum sollten wir Medienethik betreiben?
Filipović: Menschen haben sich immer schon Gedanken darüber gemacht, was die Veränderung von Gesellschaft, Medien und Technik mit öffentlicher Kommunikation macht oder mit der Art und Weise miteinander zu kommunizieren. Darüber wurde immer schon wertend oder normativ nachgedacht. Also im Zuge der Aufklärung zum Beispiel, aber auch im Zuge der Erfindung der Drucktechnik. Dann spielten die Dynamiken der Entwicklung im Medienbereich eine große Rolle.
Die Einführung der elektronischen Medien, die in den 1920er und 1930er-Jahren kamen. Und im späten 19. Jahrhundert die Fotografie. Wir können uns kaum vorstellen, welche Veränderung der Erinnerung und der Kommunikation die Fotografie ermöglicht hat. Marshall McLuhan hat dann die technische Dimension thematisiert und philosophisch-wissenschaftlich eingebracht. Und seitdem Zeitpunkt ging das natürlich immer weiter. Jeder technische Wandel und vor allen Dingen der Wandel hin zum Internet hat dann neue normative Probleme geschaffen, die aber auch normative Probleme der Gesellschaft sind.
Sind Journalisten heute noch Gatekeeper für Informationen?
Filipović: Erst mal glaube ich, dass das, was Journalistinnen und Journalisten täglich machen, immer noch das Auswählen von Berichtenswertem ist. Sicherlich hat das noch jemand anderes zuvor getwittert oder ein Bild auf Instagram gemacht, das ist auch klar. Die Nachrichten, die heute von Journalistinnen und Journalistenen geschrieben werden, sind auf den Plattformen jetzt neu sortiert durch Algorithmen und es ist KI mit im Spiel sowie unsere Personendaten. Aber letztlich sind es eben auch Journalistinnen und Journalisten, die das machen.
Die Funktion des Gatekeepers gibt es immer noch und sie ist immer noch bedeutsam und wichtig. Aber es vervielfältigt sich eben. Heute können auch Influencer entscheiden, was "trending topic" ist. Insofern gibt es eine Vervielfältigung von Gatekeepern.
In den guten alten Massenmedien hatten wir Zeit. Das hat sich verändert. Journalisten sind immer noch verantwortlich für Inhalte. Aber jetzt gibt es eben auch algorithmisch kuratierte News-Webseiten, die da mitspielen. Und da ist die Frage nach der Verantwortung ein bisschen komplexer.
... und das verändert wiederum die Medienwelt.
Filipović: Die Dynamik des Zerfalls von Strukturen ebenso wie die Neubildung von Strukturen nimmt sicher zu. Das spielt auch für den Journalismus eine Rolle. Die Zeitungen sterben, die Arbeit verändert sich, es gibt weniger Festangestellte und weniger Geld. Aber es bilden sich neue Strukturen, es gibt plötzlich Blogger, aus der eine Blogosphäre entsteht mit normativen Codices.
Als Journalisten nutzen wir auch Social Media, selbst wenn wir kritisch darüber berichten, denn wir sind auf sie angewiesen, um überhaupt mit unseren News noch in die Öffentlichkeit zu kommen. Wie sollen Medienhäuser mit diesem Dilemma umgehen?
Filipović: Das ist eine enorme Herausforderung, denn es ist natürlich ein Problem, wenn man sich mit der Verteilung der eigenen Inhalte in die Hände fremder Plattformbetreiber begibt. Die Frage nach den Distributionswegen im Journalismus ist alt und war immer schon Teil der Medienethik. Ich denke, wir müssen die Plattformen regulieren, damit sie nicht zu viel Macht bekommen in diesem Geschäft. Und die Journalistinnen und Journalisten müssen kreative Wege finden, wie sie zu den Leserinnen und Lesern kommen.
Hier können Sie den Podcast zu Filipovic als Audio auf Spotify anhören:
Warum wir die Medienvielfalt brauchen
Hat die kirchliche Publizistik noch eine Zukunft?
Filipović: Das ist eine schwierige Frage. Die Milieus brechen den Kirchen weg oder sind nicht mehr so homogen, und die waren für die kirchliche Publizistik relativ entscheidend. Ich beobachte hier viel Umbruch. Natürlich versuchen die Kirchen, hier Internetangebote zu machen - mit ganz unterschiedlichen Erfolgen.
Auch müssen wir uns fragen, ob wir kirchliche Öffentlichkeiten von unserem kirchlichen Selbstverständnis her überhaupt brauchen. Diese Frage ist entscheidend. In der katholischen Kirche gab es nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und nach der Würzburger Synode in den 1970er Jahren einen Aufbruch und ein Selbstverständnis für einen kirchlichen Journalismus. Dieser Journalismus bot den Raum für freie Diskurse innerhalb der Kirche.
In der katholischen Kirche sehe ich da derzeit Tendenzen, dass der kirchliche Journalismus unter Druck gerät. Weil die Milieus wegfallen, die Finanzierung schwieriger wird, aber auch, weil die Redaktionen plötzlich zum Kommunikationsarm der Diözese werden. Und da wird es natürlich schwierig mit dem journalistischen Selbstverständnis.
Für die journalistische Landschaft und für die Kirche selbst wäre es ein Schaden, wenn der Journalismus tatsächlich wegbricht. Nichts gegen gute Kommunikation und strategische Kommunikation - das machen alle Unternehmen und NGOs. Aber der freie Journalismus sollte bewahrt werden. Und das erfordert eine ziemlich große Anstrengung.
Was hat die Kirche davon, wenn Journalisten kritisch berichten?
Filipović: Letztlich ist es die Grundüberzeugung, dass wir in einem informierten und öffentlichen Diskurs am allerbesten Probleme lösen können. Das ist das aufklärerische Erbe der positiven Funktion öffentlicher Kommunikation. Wenn wir frei räsonieren können und uns frei austauschen, dann kommen wir der Wahrheit am nächsten. Dann können wir Probleme miteinander lösen.
Wir brauchen nicht nur in der Kirche, sondern in unserer Gesellschaft gute und richtige Informationen, aber auch Meinungen und Interpretationen. Darauf aufbauend können wir uns unterhalten und miteinander streiten, welches der richtige Weg ist.
Journalisten brauchen Werte wie Transparenz und Wahrheit. Aber es spielen noch andere Dinge eine Rolle, wie zum Beispiel Fairness im Sinne vom Einhalten von Gesetzen, aber auch solche Sachen wie Respekt, Verantwortung und Kompetenz.
Regulieren von Medien und Plattformen
Und was benötigen wir als Verbraucher, um gute Informationen zu erhalten?
Filipović: Wir brauchen guten Journalismus und gute Algorithmen, weil wir ohne eine automatische Sortierung nicht mehr klarkommen. Und Kompetenz: Wir müssen verstehen, wie der Journalismus funktioniert, also Relevanzkriterien der Redaktionen kennen und wie der Auswahlprozess läuft. Und wir müssen wissen, wie Algorithmen funktionieren und wo die Gefahren liegen. Medienkompetenz bedeutet heute immer auch digitale Kompetenz.
Müssen wir die Plattformen stärker regulieren?
Filipović: Wir brauchen eine Medienregulierung in Europa, die auf Privatheit achtet und überlegt, ob in bestimmten Bereichen auch der Leistungsschutzrecht von Verlegerseite her sinnvoll ist. Auch das Thema Urheberrecht gehört dazu.
Welche Bedeutung spielt die Pluralität von Medien, Werten und Meinungen? Wie gehen wir damit um, wenn jemand Corona leugnet - ist das eine Meinung unter vielen, die gleichberechtigt nebeneinander stehen oder nicht?
Filipović: Unsere Pluralität ist die Folge einer menschenrechtlich basierten Demokratie. Wir haben Prozesse der Mitbestimmung und der Partizipation, die wir wollen, denn es ist das Recht jedes Menschen, sich einzubringen in die Gestaltung der Welt, in der er lebt. Und dann entsteht so etwas wie eine Pluralität von Meinungen.
Menschen mit einer anderen Lebensweise können aber moralische Überzeugungen haben, die ich in meiner Moral nicht haben kann, weil ich sie nicht sehe. Das würde bedeuten, dass wir auch eine Pluralität von Lebensweisen haben. Und dadurch entstehen viele Probleme.
Ein Beispiel dafür ist die Frage nach der Balance. Da sagen 99 Wissenschaftler, dass es soundso ist, und ein Wissenschaftler sagt, es ist ganz anders. Dann tendieren Journalisten manchmal dazu, diesem Einen das Wort zu erteilen, denn das Abweichende ist viel attraktiver, weil es mehr Aufmerksamkeit zieht. Und da entsteht ein Ungleichgewicht. Und hier glaube ich, dass wir schon dafür kämpfen müssen, dass es so etwas gibt wie das Richtige oder Wahre. Das gehört schon dazu.
Über die Wahrheit von Informationen
Kommen Sie manchmal an den Punkt, wo sie Informationen anzweifeln? Wie gehen Sie damit um?
Filipović: Viele Dinge kann ich natürlich auch nicht nachlesen oder einschätzen. In unserer komplexen Welt ist Vertrauen notwendig. Das ist dann auch immer ein Vertrauen in bestimmte Gruppen, also zum Beispiel in den Journalismus. Das heißt, ich versuche Qualitätsmedien zu rezipieren und gehe davon aus, dass in den allermeisten Fällen dort die Leute eine gute Arbeit machen. Das ist natürlich ein Vertrauensvorschuss, der auch erschüttert werden kann.
Ebenso im Wissenschaftssystem, da vertraue ich darauf, dass durch die Verfahren und die Publikation von Forschungsergebnissen sowie die Kritik daran so etwas wie eine Wahrheit herausstellt. Wir müssen das auch delegieren und abgeben können.
Ihr Blog heißt Unbeliebigkeitsraum - was meinen Sie damit?
Filipović: Der Titel repräsentiert ein wenig mein Ethikverständnis. Bei aller Pluralität und Offenheit, die wir haben, kann es nicht darum gehen, die Frage nach dem Guten und Richtigen zu verabschieden. Wo Menschen zusammen sind, bilden sich Räume, in denen es eben nicht beliebig ist, wie man miteinander kommuniziert. Und diesen Raum erforscht eine Ethik.
Alexander Filipović
Der Sozialethiker und Medienethiker Alexander Filipović ist seit Februar 2021 Professor für Christliche Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität in Wien. Der katholische Theologe ist Mitherausgeber der medienethischen Zeitschrift Communicatio Socialis und der Schriftenreihe "Kommunikations- und Medienethik".