Idol der einen – Ärgernis der anderen: Ernesto Cardenal gehört zu den wichtigsten Persönlichkeiten des kulturellen Lebens in Lateinamerika. In Deutschland ist der Dichter, Theologe und Querdenker mit Baskenmütze auf rebellischem Haar eine Symbolfigur der Linken. Nun ist der überzeugte Marxist und Befreiungstheologe 95 Jahre alt geworden. Der am 20. Januar 1925 in Nicaragua geborene Literat ist dabei unbeugsam wie eh und je.

"Ich bin kein Extremist", sagte Cardenal im Dezember auf einer Konferenz in Mexiko, wo er eine von zahlreichen Ehrungen zu seinem Geburtstag erhielt. "Demokratie zu verlangen ist kein Extremismus." Dies richtete sich an den nicaraguanischen Präsidenten Daniel Ortega, den zu kritisieren der katholische Dichter nicht müde wird. Cardenals einstiger Kampfgefährte für die Befreiung Nicaraguas von der Somoza-Diktatur regiert seit Jahren autoritär. "Was Ernesto Cardenal vor der Repression schützt, die andere Kritiker bedroht, ist seine Bekanntheit im Ausland", sagt der Musiker Roberto Deimel, ein langjähriger Freund Cardenals.

Cardenal kämpft für Gerechtigkeit und Solidarität

Der kämpferische Literat ist schmächtig geworden, sein schlohweißes Haar dünner, für mehr als ein paar Schritte braucht er einen Rollstuhl. Doch so, wie er nach wie vor entschieden und öffentlich für seine Überzeugungen wie Gerechtigkeit und Solidarität eintritt, arbeitet er auch weiter. Zuletzt erschien das Langgedicht "Hijos de las estrellas" (Kinder der Sterne) in einer illustrierten Ausgabe. In Deutschland plant sein langjähriger Übersetzer Lutz Kliche einen Band mit etwa sechs langen Gedichten. "Er schreibt immer weiter", sagte seine langjährige Assistentin Luz Marina Acosta bei der Vorstellung des Buches 2019. "Es scheint, als hätten wir den Dichter noch eine Weile."

Vor einem Jahr schien das noch anders. Eine Niereninfektion zwang Cardenal, der in Nicaraguas Hauptstadt Managua lebt, zu einem längeren Krankenhausaufenthalt. Dort erreichte ihn die Nachricht, auf die er Jahrzehnte gewartet hatte: Der Vatikan hob die Sanktionen gegen ihn auf. Wegen seiner Beteiligung an der ersten Regierung nach der sandinistischen Revolution in Nicaragua hatte Johannes Paul II. Cardenal 1985 von seinen priesterlichen Ämtern enthoben. Er durfte keine Messen mehr halten und keine Sakramente erteilen. Johannes Paul II. war ein vehementer Gegner der Befreiungstheologie, die sich für die Benachteiligten und Armen einsetzt.

Treue Fangemeinde von Cardenal in Deutschland

"Die Nachricht seiner Rehabilitierung hat ihm so gutgetan, dass er sich erholt hat", ist sich Deimel sicher, der über Jahre Cardenals zahlreiche Auftritte in Deutschland organisiert hat. In der Bundesrepublik hat der Dichter eine treue Fangemeinde. "Tatsächlich ist er zuerst in Deutschland bekannt geworden und dann in Lateinamerika", sagt Deimel. Einige Werke, wie das autobiografische "Verlorenes Leben" (Vida Perdida) erschienen zuerst auf Deutsch.

Seine ersten literarischen Versuche, meist elegische Liebesgedichte, machte Cardenal in seiner Zeit im Jesuitenkolleg. Danach studierte der Sohn wohlhabender Eltern Literatur in Nicaragua, Mexiko und den USA und engagierte sich in der revolutionären Bewegung. 1954 entkam er nur knapp einem Massaker.

Ein "mystisches Erlebnis" bewegte ihn dazu, 1957 in ein Trappistenkloster in den USA einzutreten. "Die Liebe zur Schönheit der Mädchen führte mich zur Liebe zu Gott, Schöpfer aller Schönheit", beschrieb Cardenal. Während seines Theologiestudiums entstanden die Psalmen, die zu seinen wichtigsten Werken gehören. Darin klagt er Gewalt, Diktatur und Habgier an und äußert doch Zuversicht auf Gottes Schutz. Aber er erlaubt sich auch Zweifel: "Wie lange noch, Herr, wirst du neutral sein? / Wie lange teilnahmslos zusehen?"

Gemeinschaft von Solentiname

1966 kehrte er nach Nicaragua zurück, wo er die Gemeinschaft von Solentiname mitbegründete, die im "Evangelium der Bauern von Solentiname" zu Literatur wurde. Mit Beginn der Revolution 1977 floh Cardenal und wurde Sprecher der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN. Nach dem Sieg 1979 war er neun Jahre lang Kulturminister. 1980 erhielt er für sein Engagement den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – nur eine von zahlreichen Auszeichnungen.

Nach zunehmenden Meinungsverschiedenheiten mit Ortega verließ Cardenal 1994 die Sandinisten. Seitdem leidet er unter den Entwicklungen in seinem Land. Doch der fragile Gesundheitszustand erlaubt kaum mehr seine geliebten Reisen ins Ausland. "Nach Deutschland wird er nicht mehr kommen", ist sich Übersetzer Kliche sicher. Wenn er kann, will Cardenal auch zu viel Trubel an seinem Geburtstag vermeiden. Roberto Deimel sagt: "Am liebsten hätte er einen ruhigen Tag."