Gestern stand bei mir das schlechte Gewissen vor der Tür. Es trug ein gelb-rotes Polohemd und streckte mir freundlich ein Paket entgegen. Darin neue Sneakers, obwohl die alten noch lange nicht nicht durchgelaufen waren. Das schlechte Gewissen trug auch ein Namensschild samt Namen. Aber ich erinnere mich nicht an ihn. Irgendwas Russisches, hätte ich früher gedacht. Inzwischen weiß ich: Könnte auch ukrainisch gewesen sein. Vor ein paar Wochen ist die Ukraine samt ihrer Sprache und Kultur in mein Bewusstsein gerückt. Von ungefähr Platz 134 der Länder, die ich in meinem Alltag wahrnehme, auf Platz 1.

Ich wünschte, es wäre anders. Ich wünschte, ich hätte seit Jahren ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Bedrohungslage der Ukraine gehabt. Ich wünschte, ich hätte ein echtes Verständnis dafür entwickeln können, wie mein westeuropäischer Wohlstand mit der Machtfülle des Putin-Regimes zusammenhängt.

Aber so war es nicht.

Klar, ich hatte eine Ahnung, dass da etwas nicht passt. Dass es nicht sein kann, dass meine gemütlich gluckernde Heizung Geld in die Kasse eines Machthabers spült, der damit ein System der Unterdrückung finanziert. An manchen Tagen habe ich sogar etwas getan. Petitionen unterschrieben. Die Heizung heruntergedreht. Meistens aber war ich vom Aufwachen bis zum Ins-Bett-Gehen damit beschäftigt, mein Leben auf die Reihe zu kriegen. Nebenher die Welt retten? Muss man sich erst mal leisten können, dachte ich. Bis der Krieg ausbrach. Und alles in Trümmern lag. Mariupol. Teile von Kiew. Und meine Gewissheiten.

Zwei Tage, bevor das Paket kam, hatte ich es vom Sofa aus bestellt. Spätabends waren mir die düsteren Nachrichten des Tages zu viel geworden. Zur Ablenkung etwas Online-Shopping. Konsum als Weltflucht. Der Paketbote mit dem russischen oder ukrainischen Namen, in seinen Händen ein Paket mit meinen neuen Schuhen – vielleicht steckt in dieser Szene ein ganzer Weltkonflikt.

Mein erster Impuls, als ich am 24. Februar morgens von der russischen Invasion las, war nicht Bedauern oder Mitgefühl. Noch nicht mal Schock oder Angst. Es war der Gedanke: Oh Gott, bitte nicht auch das noch. Denn meine Woche war eng getaktet. Besprechungen, Termine, Fristen. Nun würde alles noch mehr werden, noch komplexer. Die Welt, mein Leben, meine Arbeit. Alles würde im Schatten eines Krieges stehen, zu dem ich mich klug verhalten müssen würde. Mitfühlend, aber auch tatkräftig. Das erwartete die Gesellschaft. Und das erwartete ich von mir.

 

Stress in der Arbeit

Stress. Ich empfand puren Stress auf dem Weg zur Arbeit. In der Straßenbahn Menschen, die auf ihre Smartphones starrten. Manche regungslos, andere ängstlich. Und mir ging die Pumpe beim Blick auf meine heutige To-do-Liste, in der ein Krieg nicht vorgesehen war.

Als ich an meinem Schreibtisch saß, spürte ich sie körperlich: Nervosität, die jeden Moment in Panik kippen konnte. Ich schloss die Augen, öffnete sie aber gleich wieder. Verschlossene Augen kamen mir zynisch vor an diesem Morgen. Auch tief durchatmen fand ich albern. Als ginge es hier um mich und mein Befindlichkeiten, während in der Ukraine die Bomben fielen. Kürzlich hatte ich in einer großen Tageszeitung gelesen, dass uns die Achtsamkeitskultur mit ihren Bewusstseins- und Atemübungen selbstbezogen mache. Glücksversessen. Egoistisch. Denn stehe nicht der Achtsamkeitstrend sinnbildlich für unsere Weltvergessenheit, die so etwas wie Putins Krieg erst ermöglicht habe?

Achtsamkeit hat keinen guten Ruf mehr. Gäbe es ein Dschungelcamp für abgehalfterte gesellschaftliche Trends, die Achtsamkeit wäre Dschungelkönigin. Aktion ist in. Helfen. Anpacken. Machen. Meiner Generation, den Millenials, wird von Jüngeren vorgeworfen, sich zu sehr mit Befindlichkeiten aufzuhalten.

Da ist was dran. Und trotzdem will ich auch jetzt, in diesen heftigen Krisenzeiten – die Klimakrise gibt’s ja noch on top – versuchen, achtsam zu bleiben. Auch wenn manche da die Augen verdrehen. Denn für mich hat Achtsamkeit nichts mit Weltflucht zu tun. Im Gegenteil.

"Das Private ist politisch", lautet ein altes Motto linker Kreise. Wenn das stimmt, dann ist auch mein Umgang mit mir selbst politisch. Das heißt: Mein Innerstes, mein Seelenleben, hat Auswirkungen auf das, was nach außen wirkt, auf das Politische. In dem Moment ist Achtsamkeit kein kapitalistischer Trend, sondern das Gegenteil davon. Wenn ich auf meine Grenzen achte und sie kenne, heißt das ja nicht, dass ich alle Kriegsnachrichten abschalte, um meine innere Balance nicht zu beschädigen. Es heißt, wahrzunehmen, dass meine innere Balance längst beschädigt war, so sehr, dass ich Kriegsnachrichten von mir fernhalten musste, um nicht völlig zusammenzubrechen. Der Krieg zeigt mir: In meiner Wohlstandsblase lief schon lange einiges schief.

Ich bezeichne mich selbst als Christ. Achtsamkeit nenne ich Gebet. Ich muss dazu nicht die Hände falten. Ich muss keine Worte sprechen, noch nicht mal in Gedanken. Beim Beten muss ich erst mal wahrnehmen. Einen Blick haben für Gott in meinem Leben. Einen Blick fürs Leben als etwas Göttliches. Ein gnädiger Blick auf mich selbst als Geschöpf Gottes hat mich schon so manches mal den Laptop zuklappen lassen, statt wieder Überstunden anzuhäufen. Ein milder Blick auf andere als Ebenbilder Gottes hat mich schon bei manchem Fehltritt ein Auge zudrücken lassen, wo ich früher noch stinksauer gewesen wäre.

Beten ist politisch, ohne dass es ein politisches Gebet sein muss. Ich bin kein Fan politischer Gebete, die die Ungerechtigkeiten der Welt anklagen.

Ich frage mich, ob manche Menschen solche Gebete eher zu sich selbst sprechen. Als Selbstvergewisserung, dass man auf der moralisch richtigen Seite steht. Und weniger zu Gott, der immer großartig darin war und ist, solche Gewissheiten über den Haufen zu werfen.

Mir geht es um das zweckfreie Gebet. Beten um des Betens willen. Wenn ich bete und mit Gottes Möglichkeit in meinem Leben rechne, verändert mich das. Ich hinterfrage dann die Dinge, die sich an die Stelle Gottes gedrängt haben, allmächtig und alles bestimmend. Meine Sucht nach Selbstverwirklichung, die manchmal keine Grenzen kennt. Das Bedürfnis, jedem und allem gerecht zu werden, als hinge der eigene Wert davon ab. Und ganz banal: mein Terminkalender. Ich weiß, dass das den Menschen in der Ukraine gerade herzlich wenig hilft. Aber vielleicht hilft es, kommende Krisen früher zu erkennen. Den ständigen Blick auf den E-Mail-Posteingang zu lösen, hin zu den Augen der Menschen, die mit mir auf dieser fragilen Erde leben, in Deutschland, in der Ukraine und anderswo.

Podcast Gott or Not von Alex Brandl

Alle Folgen des Podcasts von Alex Brandl findet Ihr unter diesem Link.