Sein Buch "Die Schwachen zuerst" formuliert eine, wie Reimer Gronemeyer sagt, "revolutionäre" Kernthese. Es kreist nämlich um diesen Gedanken: "Die Schwachen" – die Alten, die Pflege- und Hilfsbedürftigen, die Kleinen, die Sterbenden, die Nicht-mehr-Hinterherkommenden der westlichen Leistungsgesellschaften und die Armen weltweit – sie "sind nicht eine Randerscheinung, sondern das heimliche Zentrum einer Gesellschaft im radikalen Wandel. An ihnen können und müssen wir Maß nehmen für die Frage, wie es weitergehen soll. Sie wissen etwas, was die Starken, die Gesunden, die Planer, die Mächtigen, die Wissenschaftler erst lernen müssen."
Reimer Gronemeyer, geboren 1939 in Hamburg, hat nicht nur Evangelische Theologie studiert, sondern auch Soziologie. Er hat zwei Promotionsarbeiten geschrieben: eine zu den Paulusbriefen und eine zur betrieblichen Mitbestimmung. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter an den theologischen Fakultäten in Mainz und Bochum und wurde dann Soziologieprofessor in Gießen. Er ist weit gereist: Er war zu Forschungszwecken nicht nur viel in Osteuropa unterwegs, sondern auch in zahlreichen afrikanischen Ländern. Er ist in Pflege- und Palliativthemen zu Hause, und das spürt man auch in seinem Buch "Die Schwachen zuerst".
Reimer Gronemeyer über die Schwachen
Die "Vulnerablen", die Verletzlichen und besonders Gefährdeten, waren handlungsleitend für die Politik in der Corona-Pandemie. Die Humanität einer Gesellschaft bemisst sich schließlich daran, wie sie mit Schwächeren und den Schwächsten umgeht. Und die ganze Gesellschaft war bereit, sich solidarisch für ihre Schwächsten in den Lockdown zu begeben. Oder?
Es stimmt, und es stimmt auch wieder nicht. Der Pflegekenner Gronemeyer weist mit Verve darauf hin, dass die eigentlich Betroffenen, die Alten, die Kranken, die Heimbewohner, keine eigene Stimme hatten, schon gar nicht in der Pandemie, dass über sie gesprochen wurde und ansonsten der einsame Tod regierte in abgeriegelten Anstalten. Anders als die #metoo- oder Black-Lives-Matter-Aktivisten sind sie in der Regel ausgeschlossen von den digitalen Erregungszyklen, die heute gesellschaftliche Diskurse bestimmen. Hinter den Lockdown-Sperren verschärften sich die bereits herrschenden Pflegenotstände noch einmal drastisch – und die Gesellschaft klatschte.
"Jesus hätte Oma nicht besucht" war der Titel eines Spiegel-Online-Artikels während des Lockdowns. Mit dem Begriff der "Biomacht" beschreibt der italienische Philosoph Giorgio Agamben den Totalitarismus der Gegenwart, der in der Pandemie anschaulich wurde: Weil "das Leben" – losgelöst von allen religiösen und gemeinschaftlichen Bindungen – zum Zentrum eines biomedizinischen Kultes geworden sei, falle, so Gronemeyer, "jeder Widerspruch sogleich unter das Diktum: Ketzerei."
Gronemeyer fragt dagegen:
Sind sie, die Schwachen, "das Fieberthermometer für die Pandemiezustände? Haben sie uns etwas mitzuteilen, was wir beharrlich übersehen?"
Und welche Lehren werden wir nun, da ein Ende absehbar scheint, aus der Erfahrung der Pandemie ziehen? Reimer Gronemeyer befürchtet, dass alles ganz anders werden und dabei doch alles beim Alten bleiben könnte.
Gronemeyer ist nicht der Einzige, der in der Pandemie ein "Trainingslager" sieht, das uns auf die Zumutungen und Krisen vorbereitet, "die mit der Klimakatastrophe auf uns einstürzen werden". Die Pandemie lehrt, "dass der Ausnahmezustand über Nacht zum Alltag werden kann".
Gronemeyer erfasst hellsichtig den Umfang der anstehenden ökologischen und sozialen Herausforderungen. Viele träumen nun von der "großen Transformation", vom "Great Reset", dem "Green New Deal". Viele Klima-Aktivisten würden für das höhere Ziel der Weltenrettung gerne den Ausnahmezustand zum modus operandi machen – mit rigider Kontrolle von Mobilität und Ressourcen. Gronemeyer gruselt es davor. Aber nicht aus konservativ-reaktionären Gründen. Sondern, so seine Argumentation, weil auch im grünen Aktivismus das eigentliche Problem der Menschheit handlungsleitend ist: der Hochmut angemaßter Stärke, Fantasien der Machbarkeit, ob sie sich nun in Elektroautos realisieren oder im Erreichen von Klimazielen.
"Was wäre das für eine Überraschung", provoziert Gronemeyer gegen den Zeitgeist, "wenn zum Beispiel auf einem Parteitag der Grünen mal jemand aufstehen würde und sagen würde: ›Leute hört zu: Wir werden den Planeten nicht retten. Der Zug ist abgefahren. Wir kriegen die Zukunft nicht in den Griff.‹ Darum lasst uns ganz woanders anfangen."
Damit trifft Gronemeyer einen entscheidenden Punkt: Ohne eine spirituelle Veränderung wird es keine andere Welt geben. "Denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig", sagt Jesus seinem Apostel Paulus zufolge (2. Korinther 12,9). Ist das weltfremd?
Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat das Christentum wegen seiner jenseitsorientierten "Sklavenmoral" kritisiert, die allein zu dem Zweck diene, die Schwachen und Hilflosen angesichts ihrer Realität vor Sinnverlust zu schützen und zu betäuben. Doch es gibt auch eine sehr diesseitsorientierte Hoffnung, die aus dem Paradox lebt, dass es das Schwache, Sanfte, Wehrlose ist, das Zukunft hat.
Schwachheit ist – das macht Gronemeyer mit Geschichten aus deutschen Pflegestationen und der afrikanischen Savanne plausibel – nicht etwa etwas, das Auszumerzen wäre, wie es das Glaubensbekenntnis unserer Zeit des Selbstoptimierungswahns, der Fitnessstudios, Schönheits-OPs und Erfolgsberater ist. Es ist so etwas wie der innere Sinn der Welt. Wirklich stark werden wir Menschen, wo wir unsere Schwäche erkennen und eingestehen. Das fällt schwer. Aber leichter ist eine gemeinsame und gelingende Zukunft auf diesem Planeten vermutlich nicht zu haben.
Reimer Gronemeyer: Vorschein einer "konvivialen" Gesellschaft
Reimer Gronemeyer diagnostiziert "Risse im kognitiven Imperium des Westens". Der christlich geprägte Konsens über die gemeinsame Menschlichkeit, er nennt es "Sorgeverantwortung", schwinde weltweit. Stimmt das? Die Ungleichzeitigkeiten haben zugenommen. Es gibt sie: viele, viel zu viele Menschen, "die in dreckigem Wasser, in verseuchter Luft, unter löchrigen Dächern versuchen zu überleben". Wahr ist aber auch, dass es noch nie so vielen Menschen auf dieser Erde so gut ging wie heute, noch nie so wenig Hunger herrschte, wie zu unserer Zeit. Es stimmt nur halb, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer würden. Die Kluft zwischen beiden wird immer größer, und das ist fast noch schlimmer.
"Vielleicht können die Schwachen verstanden werden als eine Art Antimaterie in der Gesellschaft der Starken", sagt Gronemeyer, "vielleicht sind sie der flackernde Vorschein einer konvivialen Gesellschaft, in der Selbstbegrenzung zur Grundmelodie wird." Mit Adornos Satz: "Die Menschen haben den Begriff der Freiheit so manipuliert, dass er schließlich auf das Recht des Stärkeren herausläuft, dem Schwächeren und Ärmeren das wenige abzunehmen, was er noch hat", sollte dabei aber nicht das Kind "Freiheit" mit dem Bad der ungerechten Verhältnisse ausgeschüttet werden. "Die Hoffnung, dass Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit eines Tages die Welt durchsäuert haben werden", wir sollten sie nicht aufgeben.
Man muss Reimer Gronemeyer nicht in allem zustimmen; aber es ist ein höchst lesenswertes Abenteuer, seinen mäandernden Erwägungen zur Stärke der Schwäche zu folgen und sie nach-zudenken.
BUCHVORSTELLUNG
Reimer Gronemeyer: Die Schwachen zuerst. Lektionen aus dem Lockdown. Claudius Verlag, 2021. ISBN 978-3532628621. 192 Seiten, 18 Euro
Literarischer Salon am Dienstag, 8. Juni 2021 ab 19:00 Uhr
Moderiert wird die Veranstaltung von Markus Springer, Redakteur für Kultur, Medien und Netzwelten beim Sonntagsblatt.
Anmeldung
Die Veranstaltung findet über Zoom statt.
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