Gesellschaftlicher Wandel braucht seine Zeit. Das hat Sigrid Baur erfahren. Als erste Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Memmingen sorgte sie Schritt für Schritt für Veränderungen in der bayerischen Stadt. Als sie 2004 verabschiedet wurde, nahm die Stadt Memmingen in der Gleichstellungsarbeit einen "Spitzenplatz unter den bayerischen Städten ein", wie ihr der damalige Oberbürgermeister Ivo Holzinger attestierte.

Geboren unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs, am 25. Juli 1945, wurde sie, gerade mal zehn Monate alt, mit den Eltern vertrieben aus dem schlesischen Klein-Mohrau, Landkreis Freudenthal, ihrem Geburtsort. Dem Bericht der Mutter zufolge konnte sie bereits gehen, gleichwohl war für das Kind Sigrid der mühsame Weg der Vertreibung ins Allgäu belastend. Sie selbst weiß davon nichts, auch nichts von der Unterbringung in zwei Lagern in Memmingen (in der sog. Roten Turnhalle und in der "Burg").

Sigrid Baur: Die Ankunft im neuen Zuhause Memmingen

Sigrids erster Eindruck der neuen Heimat war der Aufenthalt im "Adler"-Hinterhof (damals ein Hotel), an viele Kinder und eine steile Außentreppe, die hinaufführte zur Ein-Zimmer-Unterkunft der dreiköpfigen Familie, um die sich die Eltern erfolgreich beworben hatten.

Früh schon war es ganz selbstverständlich, dass sie mit der Mutter zum Kleinholz-Lesen in den Wald ging, auf dem Hinweg im Leiterwagen sitzend, auf dem Heimweg zu Fuß neben dem beladenen hölzernen Vierrädler. Mit diesem Gefährt karrten Mutter und Tochter auch ein Mal im Jahr Mist vom Schlachthof in den Schrebergarten, wo die Gemüsepflanzen gedüngt wurden.

Überschattet war das Leben der Familie immer von der schweren Kriegsverletzung des Ehemannes und Vaters. Das amputierte Bein, Krücken, eine Prothese waren Bilder, die sich schon dem Kind einprägten. Das Lebensprinzip der Eltern, "selbstständig zu sein", übernahm Sigrid auch für ihr Leben.

Die Schulzeit, zunächst in der Bismarck-, dann in der Elsbethenschule, verlief in Klassen mit über 40 Schülern. Der Unterrichtsstoff bereitete ihr keine Schwierigkeit, wenngleich die träumerisch veranlagte Schülerin – so bezeichnet sie sich selbst – lieber mehr Zeit im Freien verbracht hätte.

Sigrid Baur: Ausbildung bei der Stadt Memmingen

Als eine Lehrerin ihr wohlmeinend erklärte, sie könne ihr eine Lehrstelle in einem Modegeschäft vermitteln, weigerte sich die Schülerin. Sie besuchte die private Handelsschule Merkur und ging dann zur Stadt Memmingen. Der Ausbildungsweg, aufgrund der Mittleren Reife auf zwei Jahre verkürzt, begann in der Rechtsabteilung. Der Rundlauf durch die gesamte Verwaltung führte auch zum Vöhlin-Gymnasium und ins städtische Krankenhaus, wenn dort durch Krankheit Arbeitsplätze unbesetzt waren.

Es ging allenthalben aufwärts in der Zeit des beginnenden sogenannten Wirtschaftswunders in den 1960er-Jahren, erinnert sich Sigrid Baur. Der Vater erhielt eine Anstellung in einer Weberei, die Mutter war eine begeisterte Gärtnerin im Schrebergarten. Dort lernte Sigrid viel über den Kreislauf der Natur, der sie immer schon interessierte.

Mit 21 Jahren wurde sie OB-Sekretärin, was zunächst bedeutete, die schwere Erkrankung und den frühen Tod des damaligen Oberbürgermeisters Rudolf Machnig hautnah mitzuerleben. In der nun folgenden Ära von Oberbürgermeister Bauer veränderte sich viel in der Stadt.

Ihren Ehemann lernte Sigrid über den Freundeskreis vom Turnverein kennen. Als der Ehemann andernorts beruflich tätig wurde, blieb Sigrid Baur in Memmingen. Neben ihrer Arbeit betreute sie die Eltern und dann die demente Mutter, die dreimal täglich versorgt werden musste.

Sigrid Baur: Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Memmingen

Oberbürgermeister Ivo Holzinger bot Sigrid Baur die neu geschaffene Stelle als Gleichstellungsbeauftragte an. Nun war sie zur Hälfte für die Gleichstellung und zur Hälfte für die Verwaltung zuständig. Sie entschied sich zu einem Fernstudium im Fach "Frau im Recht" der Fernuniversität Hagen. Gleichzeitig besuchte sie Seminare und knüpfte Kontakte mit den ersten bayerischen Gleichstellungsbeauftragten sowie zur Münchner Leitstelle am bayerischen Arbeitsministerium. Sie war entschlossen, sich gründlich einzuarbeiten in das Neuland, das keineswegs von allen als notwendig erachtet wurde. Das Amt der Gleichstellungsbeauftragten war eine strapaziöse, oft auch konfliktgeladene Aufgabe, resümierte Baur später.

"In Jahrhunderten aufgebaute und gewachsene Strukturen und Traditionen lassen sich nicht mit einem Federstrich per Gesetz verändern. Im gesellschaftlichen Leben ist bei Weitem noch nicht überall Gleichstellung erreicht", meint Sigrid Baur

Die Zeit war reif für Projekte, die es bis dahin nicht gegeben hatte. Zusammen mit anderen Frauen brachte sie als Gleichstellungsbeauftragte ein "Frauenhaus" auf den Weg. Auch entstand die Koordinierungsstelle "Frau & Beruf".  Zu ihren Aufgaben gehörte es, zu Netzwerken, in Kursen, Vorträgen, Ausstellungen, Lesungen, Straßenfesten, Vereinen und Beiräten zu wirken.

Vor Wahlen wurde Kandidatinnen die Möglichkeit gegeben, sich vorzustellen. Der humorvolle Slogan "Frauen in den Stadtrat trommeln" gefiel auch aufgeschlossenen männlichen Wählern. Die örtliche Presse wurde aufgefordert, Redakteurinnen einzustellen.

Sigrid Baur zählt auch zu den Gründerinnen der Memminger Frauengeschichtswerkstatt. Über ihren Aufruf in einer Tageszeitung war 1994 eine Gruppe entstanden, die bis heute an den Themen arbeitet. Auf Initiative von Baur wurde 1996 das Frauennetzwerk gegründet. Das Frauennetzwerk Memmingen dient der Bündelung frauenpolitischer Interessen und Kräfte in Memmingen. Es setzt sich grundsätzlich für die Förderung und Gleichstellung aller Frauen ein.

Aus der Geschichte lernen heißt, die Geschichte von Frauen aufzuschreiben, denn Frauen müssen darin vorkommen. Aus diesem Grund entstand vor 25 Jahren die Frauengeschichtswerkstatt Memmingen.
Frauen, lasst uns weiter an unserer Geschichte schreiben!

Sigrid Baur
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Memminger Frauen.

Memminger Frauen

Der vollständige Text ist erschienen in:
"Memminger Frauen. Biographien. Geschichten. Bilder",
herausgegeben von der Frauengeschichtswerkstatt Memmingen e.V.,

Holzheu Verlag 2017.

"Rebellinnen": Die Ausstellung über starke Frauen

Dieser Text ist Teil der Wanderausstellung "Rebellinnen". Sie stellt Frauen aus dem deutschsprachigen Raum vor, die für ihre Überzeugungen und Rechte kämpften, die Gesellschaft prägten, sie verändern wollten.

Als Medienpartner von "Rebellinnen" veröffentlicht sonntagsblatt.de Porträts und weiterführende Informationen zu allen Frauen, die in der Ausstellung gezeigt werden.

Sie haben Interesse daran, die Ausstellung zu besuchen oder auszuleihen? Auf ausstellung-leihen.de finden Sie künftige Termine sowie die Online-Buchung.