"Das Jahr ist rum." Ein Jahr lang haben zehn Menschen aus ganz Deutschland etwas versucht, was der Achtsamkeitstrainer Rüdiger Standhardt ein "einzigartiges Experiment" nennt. Die Idee: So zu leben, als sei dieses Jahr ihr letztes. Alle zwei Monate haben sie sich online per Zoom zusammengeschaltet, geredet, kleine Meditationen gemacht, über Texte und Gedichte nachgedacht. Zwischendurch erhielten sie per Mail Briefe mit Gedanken und Aufgaben, tauschten sich mit Gesprächspartnern aus, schrieben ihre Autobiografie. Alles mit dem Ziel, dem eigenen Tod gedanklich näherzukommen.

Geht das? Kann man so leben, als habe man nur noch ein Jahr? Soviel voraus: Allen war bewusst, dass es sich um ein Gedankenexperiment handelt. Welche Gefühle und Gedanken sich in der wirklichen, existenziellen Konfrontation mit dem nahen Tod einstellen, weiß niemand von sich. Aber Standhardt sagt: "Das bewusste Leben mit der eigenen Endlichkeit ist ein unheimlicher Gewinn."

So leben, als ob man sterben wird

Zu Beginn gab er den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Fragen mit auf den Weg: Was sind meine drei wichtigsten Ziele für die Zeit des Experiments? Wer will ich am Ende dieses Jahres sein? Es gehe darum, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Und letztlich um die Frage: "Bin ich abflugbereit?"

"4.000 Wochen" lautet der Titel eines Buches des britisch-amerikanischen Journalisten Oliver Burkeman. 4.000 Wochen, so lange dauert - gerundet - das Leben eines 80-jährigen Menschen. Das sei absurd kurz, schreibt Burkeman, aber kein Grund für panische Vorsätze, "unbedingt das meiste aus dieser begrenzten Zeit zu machen". Die kurze Lebensspanne bringe vielmehr die Freiheit, "sich für wenige Aufgaben zu entscheiden, die einem wirklich wichtig sind".

Die große Reise, mit Delfinen schwimmen, den ungeliebten Job kündigen, der Road-Trip mit dem Freund durch Skandinavien - tatsächlich erwähnte keiner der Teilnehmenden solche unerfüllten Träume, die vermeintlich am Lebensende auftauchen. Es ging vielmehr um die "innere Reise" zur eigenen Endlichkeit, wie Standhart es ausdrückt.

Die Mannheimer Psychologieprofessorin Corina Aguilar-Raab erklärt: "Wenn ich mich mit der Frage befasse, was im Hier und Jetzt für mich wichtig ist, meine Zeit nicht vergeude und meine Ziele und Werte kläre - wenn ich all das in mein Leben nehme, hat das etwas mit Vorbereitung auf das Sterben zu tun."

Teilnehmerin Denise hat sich während des Jahres mit ihrer eigenen Biografie auseinandergesetzt, wie sie erzählt. "Es ist ein gutes Mittel, auf Themen zu gucken, die auf mein Leben großen Einfluss haben." Im Seminar erzählt eine Teilnehmerin, dass sie durch die Biografiearbeit eine große Dankbarkeit für ihre Mutter entwickelt habe: Diese habe sehr viel tragen müssen und habe trotzdem so viel Fürsorge geben können. Die Teilnehmerin habe einen Perspektivwechsel vollzogen, erklärt Standhardt, und sei sozusagen "hinter die Mutter getreten" - ein Gewinn.

Perspektivwechsel für das eigene Leben

Eine Buchempfehlung habe sie angeregt, sich mit ihren Schattenseiten zu beschäftigen, berichtet Teilnehmerin Sabine. Sie neige zum Beispiel zur Rechthaberei: "Sich das mal anzugucken und zu sagen: Das gehört auch zu mir - das macht meine Persönlichkeit rund und mich als Person ganz." Standhardt gibt ein Zitat in die Runde, das dem Psychiater C.G. Jung zugeschrieben wird: "Willst du gut sein oder ganz?" "Gutsein" zu erreichen, falle sehr schwer. Er plädiere für Leichtigkeit: "Wir sind Menschen, wir machen Fehler, manches gelingt, manches erst im zweiten Anlauf."

Sich mit den eigenen Schattenseiten zu befassen und "wohlwollend und milde" mit eigenen Fehlern umzugehen - das hält auch die Psychologin Aguilar-Raab für eine gute Vorbereitung auf den Tod. Die Philosophin und Publizistin Ina Schmidt, die sich in ihrem Buch "Über die Vergänglichkeit" mit dem Abschiednehmen befasst, verweist auf den französischen Philosophen Michel de Montaigne (1533-1592).

"Die Kunst, das Leben als etwas zu sehen, in dem Veränderung beständig stattfindet, kann nach Montaigne helfen, die Angst vor der eigenen Endlichkeit zu sich einzuladen", erklärt Schmidt. Als hilfreich erweise sich zudem der Austausch mit anderen. Trost und Unterstützung seien "vielleicht das Wichtigste, was wir brauchen, wenn wir uns wirklich vorbereiten wollen".

Den Teilnehmenden fällt am Ende die Vorstellung schwer, dass nach diesem einen Jahr wirklich Schluss sein könnte. "Durch all die interessanten Themen ist mir das etwas weggerutscht", bedauert Sabine. "Das habe ich nicht wirklich in meinen Kopf bekommen", bestätigt Denise.

"Aber dieser Zeitpunkt blieb trotzdem im Hinterkopf. Ich wollte Dinge verändern, und deshalb war die Frage: wenn nicht jetzt, wann dann?"

Philosophin Schmidt sagt: "Es ist natürlich nie möglich, herauszufinden, wie wir uns verhalten würden, wäre es wirklich das letzte Jahr. Ich bin sicher, dass wir uns erst im Angesicht des Todes wirklich neu kennenlernen können." Trainer Standhardt betont: Der Ein-Jahres-Termin sei die Einladung zu einer Reise gewesen. "Und Reisen können unterschiedliche Verläufe nehmen."

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