Herr Gloss, haben Sie als Jugendlicher auch über die Stränge geschlagen?

Werner Gloss: Ja, wer ist damals nicht nachts im Freibad über den Zaun geklettert oder in ein Gartenhäuschen eingestiegen. Viele Erwachsene haben das vergessen und sind nicht in der Lage, sich die eigenen Taten wieder ins Gedächtnis zu holen. Das hat auch damit zu tun, dass es sich oft um moralische Verfehlungen handelt, über die man nicht reden will.

Wie wäre das denn, wenn ein Vater zu seinem straffällig gewordenen Sohn sagt, ach ja Junge, ich habe auch geklaut, als ich so alt war wie du…

Gloss: Das ist die falsche Reaktion. Man soll klarstellen, dass ein Diebstahl nicht in Ordnung ist. Wichtig ist für Eltern aber, dass sie einsehen, ihre Kinder werden nicht als moralisch komplett fertige Menschen geboren. Moral muss erworben werden und sich mit der Zeit entwickeln. Das passiert vor allem in der frühen Kindheit. In diesem Alter lernt man, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden.

Später, so zwischen 15 und 17 Jahren, werden diese Einsichten nochmals überprüft. Junge Menschen loten in dieser Lebensphase ihre Grenzen aus. Sie stehen vor der Herausforderung, ihre Position in der Gesellschaft verorten zu müssen. Aus diesem Grund muss man ihnen Grenzen aufzeigen und klarmachen: Ein Diebstahl an sich ist ein Fehler, den man wieder in Ordnung bringen muss. Das heißt aber noch lange nicht, dass du dich immer so verhalten wirst. Es liegt an dir, aus deinen Fehlern zu lernen.

Eltern sollten sich dabei keine allzu großen Gedanken machen oder gar unterstellen, dass ihr Kind moralisch verkommen wäre und in Zukunft einen kriminellen Lebenswandel führen wird. Bei den allermeisten Jugendlichen bleibt es bei dem einmaligen Fehltritt und bei denen, die wirklich auf Abwegen geraten, erkennt man andere Alarmsignale.

Welche wären das?

Gloss: Üblicherweise verändert sich der Freundeskreis. Das soll allerdings nicht als Rechtfertigung missverstanden werden. Meistens wird das Kind nicht durch falsche Freunde auf dumme Gedanken gebracht, sondern sucht von sich aus diesen Umgang. Ein anderes Anzeichen besteht darin, dass sich das Kind immer wieder Sachen herausnimmt, die man sich nicht herausnehmen darf.

Die Regelverstöße wiederholen sich, eskalieren und beschränken sich nicht nur auf ein bestimmtes Verhalten. Wenn sich zu kleineren Diebstählen Lügengeschichten gesellen und heimliches Rauchen mit verbalen Entgleisungen einhergeht, erkennen Eltern ganz selbstverständlich, dass da etwas schiefläuft, was man sich tunlichst nicht schön reden sollte.

Ihr Buch taugt, wenn man die Statistiken der Straftaten anschaut, vor allem für Mütter und Väter von Söhnen, denn Mädchen werden nur selten straffällig - warum?

Gloss: Grundsätzlich begehen Jungen öfters Straftaten und sie werden häufiger angezeigt. Bei den inhaftierten Straftätern besteht ein verheerendes Missverhältnis. 97 Prozent der inhaftierten Jugendlichen sind männlich. Die Ursachen kann man nicht so einfach erklären. Es ist aber sicher so, dass männliche Verhaltensweisen häufiger sanktioniert werden.

Es gibt zum Beispiel Mädchen, die es toll finden, wenn sich Jungs um sie prügeln. Moralisch ist das nicht richtig, aber bestraft werden eben nur die Jungs, die zuschlagen. Mittlerweile gibt es einen breiten Konsens in der Gesellschaft, wonach Gewaltdelikte nicht mehr toleriert werden. Bei einer Schlägerei auf dem Pausenhof wird sofort Anzeige erstattet.

Im Gegensatz dazu wird Mobbing informell aufgearbeitet. Man spricht in der Klasse darüber und schaltet die Schulsozialarbeit ein. Dabei ist Mobbing, ein Delikt, das häufig von Mädchen begangen wird, von den Folgen oft ebenso gravierend, wie eine kräftige Prügelei.

Sie sagen, das deutsche Jugendstrafrecht ist eines der Besten, die es gibt. Was ist an Gesetzen in anderen Ländern schlechter?

Gloss: Im Jahr 1923 hat man in Deutschland das Jugendgerichtsgesetz aus der Erkenntnis heraus eingeführt, dass junge Menschen, die ja erst ihren Platz im Leben suchen, zu (wie man damals sagte) Schwer- und Berufsverbrechern wurden, als man sie mit erwachsenen Straftätern zusammengesperrt hat.
Bei schwerer Schuld oder immer wiederkehrenden Gesetzesverstöße kommen junge Menschen auch heute in Haft. Aber man sperrt junge Täter nicht mehr mit Erwachsenen zusammen ein und arbeitet im Jugendvollzug konsequent an der Resozialisierung. Das ist ein hartes Brot, aber es lohnt sich.

Eine jüngere Untersuchung zeigt, wer bis zum 25. Lebensjahr zwei Mal inhaftiert wurde, wird zu weit über 95 Prozent ein drittes Mal eingesperrt.

Das heißt, die Strafe an sich verändert das Verhalten kaum. Wir haben ein Erziehungsstrafrecht, in dem vom Täter-Opfer-Ausgleich, über Sozialstunden bis hin Jugendrichter, der mit jugendlichen Straftäter zum Bergsteigen geht, alles möglich ist. Durch solche Reaktionsformen können junge Menschen besser erreicht werden, um wieder auf den rechten Weg zukommen. Zehn Jahre später bezeichnen sie ihr Verhalten dann als den größten Quatsch ihres Lebens.

Allerdings mehren sich in der Gesellschaft die Law-and-order-Rufe. Mancher fordert gerade bei ausländischen Jugendlichen harte Strafen. Beobachten Sie das auch?

Gloss: Ja, das hat sich sicherlich verstärkt. Ich habe auch Reaktionen auf mein Buch bekommen, die in diese Richtung gehen. Aber Fakt ist, harte Strafen bewirken das Gegenteil: Ich hatte früher viel mit osteuropäischen Straftätern zu tun, die äußerst brutal und brandgefährlich waren. Viele kamen direkt aus dem Jugendstrafvollzug oder den dortigen Haftanstalten nach Deutschland, wo sie eine schlimme Verrohung erfahren hatten.

Wenn wir in einem Land mit einer sehr niedrigen Kriminalitätsrate leben liegt das nicht daran, dass die Menschen hier anständiger sind. Eine wesentliche Ursache besteht nach meiner festen Überzeugung vielmehr darin, dass wir uns mit jungen Straftätern sehr viel Mühe geben und viel Geduld haben. So werden aus Jugendlichen auf Abwegen später vielleicht doch vernünftige Erwachsene, die zur Arbeit gehen und Steuern bezahlen.

Und Eltern sollten also auch ein solches resozialisierendes und verzeihendes Verhalten an den Tag legen, wenn ihre Kinder kriminell geworden sind?

Gloss: Ja, da gilt das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Das ist aus meiner Sicht die zentrale Botschaft. Falsch wäre natürlich, ein Kind tun zu lassen, was es will. Doch egal was es getan hat, man muss es immer wieder annehmen und auf seinem Weg begleiten.

Es gibt wiederum auch Eltern, die versuchen ihre Kinder zu beschützen, indem sie Taten als harmlos abtun. Wie bewerten sie das?

Gloss: Das ist ein häufiger und vielleicht auch verständlicher Reflex. Die Schuld beim Anderen zu suchen, scheint menschlich sein. Aber nach einem Vorfall sollten die Grenzen zwischen richtig und falsch nicht verschoben werden. Die Tat muss man kritisieren aber das heißt nicht, dass man sein Kind nicht mehr lieben kann.