Helga Feyrer steht an einem Mittwoch vor ihrer Metzgerei im Simbach am Inn, die genau zum Jahrestag wieder öffnen soll. Ein großes Banner am Haus kündigt das Datum an: ein Triumph des Lebens über die Katastrophe. »Es geht uns besser«, sagt die Frau. Aber während sie über das Erlebte spricht, kämpft sie erneut mit den Tränen. »Wenn es heftig regnet, habe ich immer wieder Angst«, sagt die Metzgersfrau. »Das bringt man nie wieder raus.«
Die Erinnerungen an die Hochwasser-Katastrophe vom 1. Juni 2016 in Simbach am Inn sind schwer auszuhalten. Als die Flut gegen Mittag kam, war das Geschäft geschlossen. »Das war unser Glück.« Unten im Laden wären sie wohl ertrunken. Sie hatten noch versucht, Sandsäcke zu stapeln und eine Hochwasser-Schutztür zu befestigen. »Erst standen wir nur bis zum Bauchnabel im Wasser, dann kam immer mehr Wasser.«
Sie kletterten über die Schutzvorrichtung und retteten sich ins Haus. Alles sei rasend schnell gegangen: »Erst war nur ein Sickern zu hören, dann gab es einen Knall und die Welle war da.« Sie kam mit solcher Wucht, dass die Schutztür weggerissen wurde. Dann seien sie in den ersten Stock geflohen. Aber Rettung gab es erst ganz oben.
Insgesamt gab es elf Tote bei der Hochwasser-Katastrophe
Im obersten Stockwerk wirkt die Metzgerei wie ein normales Haus. Aber unten ist sie komplett entkernt. Die Wände sind feucht und müssen noch trocknen. Häuser mit frischen Wasserstandsmarkierungen. Man findet sie überall in den betroffenen Straßenzügen: Gartenstraße, Kreuzberger Weg und entlang des Simbachs bis hoch zur Scheibmühle, wo ein ganzes Sägewerk von den Wassermassen zerlegt wurde.
In der Folge bohrten sich Holzstämme wie Geschosse in die betroffenen Häuser. Auch ins Bürgerhaus hatte sich ein riesiger Stamm gerammt, wie ein Mahnmal habe er herausgeschaut. Inzwischen ist das Haus wieder restauriert. Am 1. Juni soll dort ein Mozart-Requiem erklingen – zum Gedenken an die Opfer und die Katastrophe.
Simbach an Inn ist nicht mehr wie früher
In dieser Stadt ist nichts mehr, wie es einmal war. Der friedliche Anblick täuscht. Hinter allem lauert die Erinnerung. Karin Meißner, Pfarrersfrau und ehrenamtliche Helferin bei der Katastrophenhilfe der Diakonie, führt durch die betroffenen Viertel. »Hier am Simbach starben gleich drei Menschen in einem einzigen Haus: Mutter, Tochter und Großmutter, erzählt sie. Vier weitere Opfer gab es in der Gartenstraße. Insgesamt sind es elf Tote, wenn man die aus den umliegenden Ortschaften mitzählt.«
Todesangst um Verwandte
Eine große Anzahl von Menschen musste Todesängste ausstehen. Wo befanden sich die nächsten Verwandten und Freunde? Am Unglückstag gab es so gut wie keine Nachrichten. Wasser und Strom fehlten noch Tage danach. Eine ganze Stadt im Ausnahmezustand.
Angesichts der Opfer gewinnen die Überlebensgeschichten an Gewicht. Ein Apotheker soll im Hof gestanden haben, als die Flut kam, erzählt Meißner. Nur weil er sich an einem Baumstamm festklammern konnte, bis der Hubschrauber eintraf, sei er nicht von den Fluten mitgerissen worden. In einer Pizzeria in der Innstraße sei das Wasser bis 30 Zentimeter vor Deckenhöhe gestanden. Nur weil der Pizzabäcker unermüdlich um Hilfe rief, habe er gerettet werden können.
Weil der Direktor die Schulkinder an der B12 entlangführte, konnten sie gerettet werden. »Die ganze Stadt ist voll von solchen Geschichten«, sagt sie, während der Simbach leise vor sich hinplätschert. Meißner deutet aufs Wasser: »Vor einem Jahr raste er noch mit 72 Stundenkilometern durch die Stadt.«
Judith Hartinger wurde der Katastrophenmodus zur zweiten Haut. Sie arbeitet als Katastrophenhelferin für das Diakonische Werk. Ihr Büro liegt im Souterrain des Rathauses, auch dort stand das Wasser. Noch immer riecht es nach Farbe. Sie unterstützt Antragsteller beim Ausfüllen der Formulare, prüft Bescheide, kontrolliert die Spendenverteilung und die Soforthilfe. Da habe es manchen Kampf ums Geld gegeben.
Simbach am Inn wird wieder aufgebaut
Die Menschen waren »gestresst und ausgelaugt«, wollten aber mit dem Wiederaufbau beginnen. Nicht jeder war versichert. Nicht jeder habe das Geld gehabt. 20 Prozent des Gebäudeschadens mussten selbst aufgebracht werden. Wenn Rentner aber kein Darlehen von der Bank mehr bekommen? »Ab welchem Nettoeinkommen ist der Mensch ein Härtefall«, fragt sie. »Es war ein wahnsinnig Kräfte zehrendes Jahr. Ich konnte jeden Tag erleben, wie es sich anfühlt, wenn alles weg ist.«
Diakonie und andere Wohlfahrtsverbände kauften Autos, damit die Menschen im Flächenlandkreis ihrer Arbeit nachgehen konnten, kauften Spielzeug für Kinder, besorgten Reinigungskräfte für Menschen, die den Schlamm nicht alleine wegräumen konnten. Andererseits seien die Menschen aber auch über sich hinausgewachsen, berichtet sie. Das Haus eines älteren Ehepaars musste abgerissen werden. Kurzerhand habe es sich entschieden, ins Pflegeheim zu ziehen. »Jetzt ist es gut«, sagte der 90-Jährige, der zwei Weltkriege und die Simbacher Flut überlebte.
Psychologische Betreuung gegen Traumata
Etwa seit Ende November sei die heiße Phase vorbei. Jetzt stehe die Verarbeitung des Erlebten im Vordergrund. Eine der Antragstellerinnen kommt ins Büro, sie wirkt seelisch angeschlagen. Ihre Tochter wird psychologisch betreut, weil sie immer noch Angst hat, wenn es draußen regnet. Die Mutter lebt mit zwei Unwetter-Apps auf dem Handy. »Ich bin sehr wachsam geworden«, sagt die Frau. Aufs Geld müsse sie auch schauen. Die Mietpreise in Simbach seien um das Doppelte gestiegen. Sie klagt auch über den Baulärm allerorten. Auch für solche Fälle weiß Judith Hartinger Rat und bietet einen Kurzurlaub in einem Hotel an: »Drei Tage für die Seele.«
Wer ist verantwortlich für das Unglück? Am Anfang quälte viele die Schuldfrage. Wäre die Flut so verheerend ausgefallen, wenn es den Rohr- oder Dammbruch nicht gegeben hätte, fragen die Bürger. Gab es ausreichenden Hochwasserschutz, wollen sie wissen. Ein Wiener Expertenteam fand heraus, dass vor allem der Starkregen für das Hochwasser verantwortlich war. Die Wolken seien direkt über Simbach stehen geblieben. 270 Liter hätten sich auf einen Quadratmeter ergossen.
Evangelischer Pfarrer organisiert ökumenischen Gottesdienst
Wie sehr die Menschen ihre Sicherheit und ihr Vertrauen verloren haben, hat auch der evangelische Pfarrer Viktor Meißner erfahren. 1027 Gebäude-Trocknungsgeräte hatte er organisiert und verliehen. »Das wird nicht von heute auf morgen besser«, meint er. Man könne sich nur Zeit nehmen und die Geschichten anhören, »damit die Erinnerungen heilen«.
Er höre immer wieder die gleichen Erzählungen von riesigen Traumata, die erst einmal Platz bräuchten. Eine erste Zäsur könnte der ökumenische Gottesdienst in der Marienkirche am 1. Juni sein. Wenn sich die Betroffenen nicht nur an die Flut erinnern, sondern auch an das Positive, die Hilfsbereitschaft und gegenseitige Unterstützung