Die Evangelische Akademie Tutzing feiert in diesem Jahr ihr 75-jähriges Bestehen, was ist das Besondere an der Einrichtung?

Udo Hahn: Die Akademie wurde nach der NS-Zeit gegründet, mit einer Idee, die kühner nicht hätte sein können. Die bayerische evangelische Landeskirche wollte einen Ort schaffen, wo Menschen zusammenkommen, um politische und gesellschaftliche Fragen zu debattieren. Das wurde in Zeiten äußerster Finanz- und Ressourcenknappheit entschieden. Die Kirche hatte ja nach dem Krieg viel drängendere Probleme - die Gemeindearbeit oder ihre diakonischen Angebote wiederaufzubauen.

Die Bildung zu priorisieren, war zu diesem Zeitpunkt eine echte Innovation.

Über die Jahre hat sich die Akademie dann zu einer Denkwerkstatt entwickelt. Die zentrale Frage ist immer: Wie wollen wir in Zukunft zusammenleben, welche Politik braucht es dazu?

Genau damit beschäftigt sich ja auch die Jubiläumstagung vom 23. bis 25. September...

Ja, wir haben uns bewusst für das Motto "Vorausdenken" entschieden, wagen also einen Blick in die Zukunft. Das schlägt den Bogen aus der Gründungszeit bis heute. Es gibt vier Jubiläumstagungen über das Jahr verteilt: Zwei hatten wir schon, die zentrale ist jetzt Ende September und dann gibt es noch eine im Dezember.

Und alle mit dem Blick nach vorn, was eine Demokratie ausmacht und wie wir zusammenleben wollen?

Das ist unser Auftrag. Die Corona-Pandemie mit ihren Protesten und jetzt der russische Angriffskrieg sowie die Energiekrise zeigen, dass alles, was wir über die Jahrzehnte für sicher gehalten haben, gar nicht selbstverständlich ist. Die Demokratie wird angefochten, die Zivilgesellschaft ist unter Druck, Energie wird zu einem Luxusgut und den Kirchen laufen die Mitglieder davon...

In den vergangenen 75 Jahren ist viel passiert an der Evangelischen Akademie Tutzing. Hier wurde unter anderem der Grundstein gelegt für die Ostpolitik des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt (SPD).

Egon Bahr hat 1963 das Motto "Wandel durch Annäherung" geprägt. Das war tatsächlich ein historischer Moment.

Im kommenden Jahr wollen wir diese Idee würdigen und zugleich schauen, wie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine die viel gerühmte deutsche Ostpolitik verändert. Dabei wird es auch um die Frage gehen, wie wir künftig mit Ländern wie China umgehen.

"Wandel durch Annäherung" ist ja für viele inzwischen gescheitert. Sehen Sie das auch so?

Nein. Denn Mitte der 1980er-Jahre hat Michail Gorbatschow dieses Motto ernst genommen, was letztlich dann zum Ende des Kalten Krieges und zur deutschen Wiedervereinigung geführt hat. Wladimir Putin sieht die Dinge grundlegend anders und im Werk Gorbatschows eine Art Betriebsunfall, der den Zusammenbruch der Sowjetunion zur Folge hatte. Die Frage ist: Kommt wieder eine Zeit, in der "Wandel durch Annäherung" in den Vordergrund rückt? Dazu braucht es aber Menschen, die darin einen Wegweiser sehen, dass alle Beteiligten etwas davon haben.

Evangelische Akademie Tutzing Udo Hahn und Kanzler Olaf Scholz
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und der Leiter der Evangelischen Akademie Tutzing, Udo Hahn, beim Politischen Club im Juni 2022

Die Rede von Egon Bahr war einer der Meilensteine in der Geschichte der Akademie. Welche gibt es denn noch?

Die Menschenrechtsorganisation "Pro Asyl" wurde hier gegründet. Die Münchner Obdachlosenzeitung "Biss" geht auf eine Tagung bei uns zurück. Die Elternzeit ist eine soziale Errungenschaft, die hier entwickelt wurde.

Und im Juni hatten wir jetzt Bundeskanzler Olaf Scholz, Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (beide SPD) und den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, als Redner zu Gast. Also die ranghöchsten Vertreter von drei Verfassungsorganen. Das gab es in der Akademie zuletzt 1978. Überdies waren alle Bundeskanzler und Bundespräsidenten der Bundesrepublik hier zu Gast.

Die Corona-Pandemie hat ja Vieles auf den Kopf gestellt - inzwischen gibt es Digital- oder Hybridtagungen. Nicht alles muss in Präsenz stattfinden. Ist ein Schloss am Starnberger See als Tagungsort nicht ein bisschen aus der Zeit gefallen?

Keineswegs! Die Pandemie hat gezeigt, dass die persönliche Begegnung durch nichts zu ersetzen ist. Das ist gerade in der Bildung von besonderer Bedeutung und schafft, wenn es um Orientierung geht, erst den entscheidenden Mehrwert. Es zählen eben nicht nur der kluge Vortrag und die Diskussion, sondern auch die Einzelgespräche beim Spaziergang oder beim Essen.

Gerade wenn es schwierige Themen zu besprechen gibt und die Meinungen stark auseinandergehen, ist der persönliche Austausch so wichtig, um eigene Standpunkte zu überdenken. So ist die Akademie mit Schloss und Park für viele ein Kraftort - spirituell wie intellektuell. Auch bei uns wird das Bildungsangebot vielgestaltiger. Digitale und hybride Formate vergrößern die Reichweite unserer Arbeit.

Wir haben bisher vor allem über den Tagungsbetrieb gesprochen. Das Schloss Tutzing mit direkter Lage am Starnberger See ist aber auch für Tourismus ausgelegt...

Im Sommer bieten wir "Ferien auf dem Schloss" für Menschen, die ihren Urlaub bei uns verbringen. Wir sind in dieser Zeit immer so gut wie ausgebucht. Und wir haben viele Gastveranstaltungen über das Jahr verteilt: Firmen, Stiftungen, Universitäten, Vereine oder Privatpersonen mieten unsere Räume für ihre Events. Alle diese Einnahmen tragen zur finanziellen Stabilität bei.

Stichwort Finanzen: Die Corona-Pandemie hat ja Tagungshäuser, Hotels und Gaststätten arg gebeutelt. Jetzt steht mit den steigenden Energiekosten die nächste Krise an. Wie steht die Akademie finanziell da?

Wir kommen zurecht. Die Einnahmen aus Eigentagungen, Gasttagungen, "Ferien auf dem Schloss", Fördermitteln etwa der Bundeszentrale für politische Bildung und der Zuschuss der Landeskirche sorgen für einen ausgeglichenen Haushalt.

Aber jetzt die steigenden Energiekosten. Ein Schloss zu heizen, dürfte ja dann fast schon unerschwinglich werden. Haben Sie Angst vor der Heizsaison?

Das wird schon eine riesige Herausforderung. Die historischen Gebäude haben einen entsprechenden Energiebedarf.

Wir haben seit Jahren ein Umweltmanagement, um Energie zu sparen und Verbräuche zu reduzieren.

Wir setzen unter anderem auf LED-Lampen, haben ein Blockheizkraftwerk und kleine Fotovoltaikanlagen auf den Wirtschaftsgebäuden, wo es der Denkmalschutz erlaubt. Auf den historischen Gebäuden ist das nicht möglich. Aber all diese Einsparungen reichen nicht aus, weil gerade die Energiekosten durch die Decke schießen. Von daher werden auch wir um Preisanpassungen nicht herumgekommen. Was dies für die Jahresrechnung 2022 bedeutet, ist jetzt noch nicht abzusehen. Die Corona-Pandemie war schon ein Stresstest für uns und die ganze Gesellschaft, aber das Stresslevel wird jetzt nochmal erheblich gesteigert.