Wenn man wie ich im pietistischen Schwabenland aufwächst und später zwei Jahrzehnte im gottlosen Berlin wohnt, dann kann man sich etwas wie die Oberammergauer Passionsspiele nur schwer vorstellen. Gehört hatte ich natürlich davon, aber bis vor kurzem waren meine Vorstellungen doch eher vage.
Umso gespannter war ich, selbst einmal Zeuge der Spiele zu werden. Um es gleich vorwegzunehmen: Ich wurde nicht enttäuscht.
Oberammergau: Umgeben von Bergen
Schon die Anfahrt nach Oberammergau ist ein Erlebnis. Das kleine Dorf befindet sich hinter Garmisch-Partenkirchen am Fuße der Ammergauer Alpen. Der Ort ist üblicherweise vermutlich eher beschaulich, aber am Tag der Premiere natürlich brechend voll. Doch trotz der vielen Besucher*innen herrscht eine auffallend entspannte, geradezu gelöste Stimmung: Alle sind freundlich, lächeln mich an, niemand drängelt.
Dabei ist es durchaus eine bunte Mischung an Leuten, die es heute zum Passionstheater zieht. Bayerische Trachten sehe ich viele, aber doch weniger als erwartet. Dafür erspähe ich den ein oder anderen Promi, allen voran Didi Hallervorden, der mir im Verlauf des Abends gleich dreimal über den Weg läuft.
Trotzdem fühlt es sich zu keinem Zeitpunkt nach sehen und gesehen werden an. Voller Spannung zieht es alle in den Saal, der beeindruckend groß ist und einen offenen Blick auf Bühne und Himmel ermöglicht. Auch hier wieder: Kein Drängeln, kein genervtes Durch-die-Reihen-quetschen, stattdessen ein respektvoller und freundlicher Umgang.
Passionstheater Oberammergau: Große Bühne voller Menschen
Dann geht es los. Und von Anfang an fasziniert die schiere Man- und Womanpower auf der großen Bühne. Ich wusste schon, dass die Bewohner*innen von Oberammergau teilnehmen, aber es ist nochmal etwas ganz anderes, diese Menschenmenge dann live auf der Bühne zu sehen. Insbesondere bei der Szene kurz vor der Kreuzigung, als sich die Anhänger des Hohen Rats und Jesus verbliebene Jünger*innen einen Schlagabtausch mit Sprechchören liefern, kommt das laustark zum Tragen.
Nach einem kurzen Verweis auf die historische Entstehung der Passionsspiele eröffnet der Chor die Passion. Eine Show möchte ich es nicht nennen, denn den ganzen Abend über ist das Geschehen auf der Bühne zwar nie langweilig, sondern im Gegenteil sehr fesselnd, aber eben auch ganz weit weg von Fernsehunterhaltung.
Wuchtig, aber nicht überladen
Hier geht es nicht um reißerische Effekte, sondern um eine wuchtige, aber nicht überladene Inszenierung. Das fängt schon bei den Kostümen an - der Chor trägt hauptsächlich schwarz mit ein bisschen weiß, die Juden und Römer in Jerusalem sind in Beige- und Grautöne gewandet. Und es endet nicht bei der Performance der Schauspieler*innen, die kraftvoll und energiegeladen spielen.
Frederik Mayet macht als Jesus einen großartigen Job, gibt einen wütenden Messias, der gleich an zwei Fronten zu kämpfen hat: Gegen die Pharisäer des Hohen Rats, denen der Wanderprediger, wie sie ihn verächtlich nennen, zu mächtig wird - und gegen Teile seiner eigenen Jünger, die ihn zu einem politischen Anführer machen wollen, der Israel von der römischen Besatzung befreien soll.
Der heimliche Star ist ausgerechnet Judas
Noch beeindruckender ist aber der Judas, den Cengiz Görür verkörpert. In Spielleiters Christian Stückls Inszenierung verrät dieser Jesus nicht aus Geldgier. Nein, ihm geht es darum, dass er - ganz menschlich - von Gott erwartet, die Ungerechtigkeit, die Besatzung, den Krieg zu beenden. Gerade angesichts des Ukraine-Kriegs bekommt diese Interpretation eine hohe Aktualität.
Und nicht nur in diesem Punkt vermeidet Stückl geschickt antisemitische Stereotype. So wird in der Passion deutlich, dass es sich bei der Verschwörung gegen Jesus nicht um ein jüdisches Komplott gegen den zukünftigen christlichen Erlöser, sondern um einen innerjüdischen Konflikt handelt: Jesus und seine Jünger tragen genauso Kippa wie seine Widersacher, er spricht beim letzten Abendmahl eine Baruch über das Brot und betont ausdrücklich, dass es sich um eine Pessachfeier handelt. Auf dem Tisch steht ein siebenarmiger Kronleuchter. Ergänzt wird die Erzählung durch visuell sehr starke Standbilder mit alttestamentarischen Motiven.
Wut, Mitgefühl, Trauer, Bewunderung und Freude
Nach fünf Stunden endet die Geschichte Jesu vom Einzug in Jerusalem bis zur Kreuzigung und dem leeren Grab fühle ich mich wie nach einer emotionalen Achterbahnfahrt. Die Passionsspiele haben so viele Gefühle ausgelöst: Wut über Ungerechtigkeiten und politische Ränkespiele, Mitgefühl mit dem Verräter Judas, der sich einen politisch einflussreicheren Messias wünscht und an seinem Verrat letztlich eindrucksvoll verzweifelt, Bewunderung für Jesus, der auch angesichts von Spott und Demütigung nie von seinen Prinzipien abweicht, wieder Trauer über seinen Tod - und letztlich Freude über sein Überwinden des Todes nach dem quälend langen Todeskampf.
Ein bemerkenswerter Abend, der sich - angesichts von fast 400 Jahren Tradition nicht überraschend - vielen unserer Seh- und Aufmerksamkeitsgewohnheiten entzieht, der ohne falsche Pathos die größte Geschichte auf die Bühne bringt und das Publikum dabei nicht nur unterhält, sondern genauso zum Nachdenken und -fühlen anregt. Ich war definitiv nicht zum letzten Mal dabei.