Hunger und Kälte: Um diese Empfindungen kreisen die Tagebucheinträge des 19-jährigen Jan Bazuin im Januar und Februar 1945. "Halb sieben morgens Kaffee, der von zehn Minuten entfernt geholt werden muss. Halb zehn, Wassersuppe mit hier und da einer Gerstenflocke. Halb eins. Essen. Sauerkrautsuppe, ziemlich dürftig", schreibt er beispielsweise am 26. Januar 1945. Da ist der junge Holländer seit etwa zwei Wochen in München - zwangsverschickt von den deutschen Besatzern in Rotterdam. Er wird dem Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) Neuaubing als Zwangsarbeiter zugeteilt. In dieser Zeit schreibt er ein Tagebuch, das jetzt mit Illustrationen von Barbara Yelin unter dem Titel "Jan Bazuin - Tagebuch eines Zwangsarbeiters" erschienen ist.
"Die Tagebuchaufzeichnungen sind ein Glücksfund", sagt Paul-Moritz Rabe, Historiker und Leiter der wissenschaftlichen Abteilung des NS-Dokumentationszentrums München. Es gebe kaum zeitgenössische Quellen von Zwangsarbeitern, viele Erinnerungen seien erst Jahrzehnte später aufgeschrieben worden, erläutert der Experte: "Das Buch bringt Leben in die Fakten und die Illustrationen geben dem Thema Zwangsarbeit ein Gesicht."
2025 soll eine eigene Erinnerungsstätte für die Zwangsarbeit öffnen
Rabe leitet auch den Erinnerungsort "Zwangsarbeiterlager Neuaubing", der 2025 als Dependance des NS-Dokumentationszentrums eröffnet werden soll. An der Ehrenbürgstraße 9 im Münchner Vorort ist bis heute ein Ensemble von acht Baracken erhalten - nur in Berlin gibt es noch eine vergleichbar erhaltene Anlage. Die Baracken bildeten das größte Lager des Reichsbahnausbesserungswerkes, wo auch Jan Bazuin arbeitete. Das Lager wurde im Frühjahr 1942 gebaut; etwa die Hälfte der 1.600 Zwangsarbeiter des RAW waren bis Kriegsende hier untergebracht.
"Zahlenmäßig war die Zwangsarbeit das größte Verbrechen der NS-Zeit", sagt Rabe. Im Deutschen Reich wurden während des Zweiten Weltkriegs etwa 13 Millionen Menschen als Zwangsarbeiter eingesetzt, von ihnen waren etwa 8,5 Millionen zivile Zwangsarbeiter. Sie waren in über 30.000 Lagern untergebracht. In Neuaubing soll am historischen Ort daran erinnert werden.
Neben einer Ausstellung sollen auch Veranstaltungen stattfinden
In der Baracke 5 am Eingang, die fast komplett im Originalzustand erhalten ist, soll eine Ausstellung eingerichtet werden. In der Baracke 2 schräg gegenüber sollen Veranstaltungen stattfinden. Die anderen Baracken auf dem Gelände, das heute der Stadt gehört, sind vermietet und dienen als Ateliers, Werkstätten oder Kindergarten. Alles ist ziemlich zugewachsen. "Wir wollen das Lager und die baulichen Strukturen wieder sichtbarer machen", sagt Historiker Rabe. Im Herbst 2021 wurde der Siegerentwurf eines Architekturwettbewerbs für das Gelände gekürt: "Auf dieser Grundlage entwickeln wir jetzt unser Konzept."
Um mit der Geschichtsvermittlung aber nicht bis 2025 zu warten, gibt es schon jetzt monatlich geführte Rundgänge über das Gelände, außerdem Veranstaltungen mit Schulklassen. Vor wenigen Wochen ging das Digitalprojekt "Departure Neuaubing" online: Auf einer Internetseite findet man multimediale Zeitzeugenberichte, künstlerische und dokumentarische Annäherungen an das Thema Zwangsarbeit und ein Videospiel.
Für Rabe ist das Thema in den letzten 20 Jahren zwar wissenschaftlich gut bearbeitet worden. In der allgemeinen Erinnerungskultur sei es aber noch nicht angekommen - trotz seines Ausmaßes. Ende April 1945 lebten etwa 7.000 Zwangsarbeiter in Neuaubing und den angrenzenden Stadtteilen, das waren mehr Zwangsarbeiter als Einheimische. In ganz München machten sie ein Viertel der Bevölkerung aus. Dem jungen Jan Bazuin gelang am 21. April 1945 die Flucht aus Neuaubing, er kehrte zurück nach Holland. Sein Tagebuch wird im künftigen Erinnerungsort ausgestellt.
Das Stichwort: Zwangsarbeit
Die Verschleppung und Zwangsbeschäftigung ausländischer Arbeiterinnen und Arbeiter war eines der zentralen Verbrechen des NS-Staats. Während des Zweiten Weltkriegs wurden im Deutschen Reich etwa 13 Millionen Menschen als Zwangsarbeiter eingesetzt. In allen im Laufe des Krieges von Deutschland besetzten Gebieten mussten noch einmal mehrere Millionen Menschen Zwangsarbeit leisten. Dabei gab es verschiedene Gruppen: KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und zivile Zwangsarbeiter. Letztere bildeten mit etwa 8,5 Millionen die größte Gruppe.
Je länger der Krieg dauerte, desto größer wurde der Bedarf an Arbeitskräften im Deutschen Reich, da immer mehr Männer im Krieg waren. Gleichzeitig wurde die Rüstungsproduktion stark ausgeweitet. Nachdem freiwillige Anwerbeversuche in den besetzten Gebieten wenig Erfolg hatten, verschleppte das NS-Regime Männer und Frauen, Kinder und Jugendliche mit zunehmender Systematik und Brutalität. Die meisten kamen aus der Sowjetunion, Polen, Frankreich, Italien und den Niederlanden.
In Deutschland arbeiteten sie in großen Rüstungsfirmen, bei der Reichsbahn, in mittelständischen Betrieben, in der Landwirtschaft und im Handwerk, in der öffentlichen Verwaltung oder als Dienstpersonal bei Familien. Ein Großteil der deutschen Gesellschaft beteiligte sich an der Ausbeutung der Zwangsarbeiter.
Insgesamt entstanden über 30.000 Zwangsarbeiterlager. Oft waren es Barackenlager, umfunktionierte Schulen, Turnhallen oder Gaststätten - mitten in den Städten. Die Unterbringung erfolgte nach Möglichkeit getrennt nach Nationalitäten. Teilweise mussten die Menschen auf ihrer Arbeitskleidung Kennzeichen tragen, etwa "Ost" für Ostarbeiter, wenn sie aus der Sowjetunion kamen. Für Westeuropäer galten bessere Rahmenbedingungen, sie bekamen beispielsweise besseres Essen.
Trotzdem reichte das Essen oft nicht aus. Die Menschen hatten kaum warme Kleidung oder medizinische Versorgung und wurden von Wachleuten und Vorgesetzten oft schlecht behandelt. Zwangsarbeiter waren im Straßenbild und an den Arbeitsplätzen allgegenwärtig und öffentlich sichtbar. Die Bevölkerung Münchens bestand am Ende der NS-Diktatur zu einem Viertel aus Zwangsarbeitenden.
1956 wurde das Bundesentschädigungsgesetz für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung verabschiedet - ausländische Zwangsarbeiter wurden dort jedoch nicht berücksichtigt. Erst im Jahr 2000 wurde die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" gegründet. Zwischen 2001 und 2007 wurden an 1,66 Millionen ehemalige Zwangsarbeiter und Rechtsnachfolger 4,4 Milliarden Euro ausgezahlt.