Die Sensationslust, Empörungskultur und Voyeurismus der Leserinnen und Leser des "Stürmer" hat Melanie Wager in ihrer Doktorarbeit "Der Stürmer und seine Leser" unter die Lupe genommen. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg hat dabei durchaus Parallelen der damaligen medialen Wirkung zur Gegenwart entdeckt.
Der 1885 in Fleinhausen bei Augsburg geborene Julius Streicher war einer der schillerndsten und extremsten Nationalsozialisten, der sogar den Kollegen seiner Partei, der er bereits ab 1922 nach politischen Anfängen im deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund und der Deutschsozialistischen Partei angehörte, zu extrem wurde. Joseph Goebbels notierte 1936 in seinem Tagebuch, der damalige NSDAP-Gauleiter von Mittelfranken sei ein "enfant terrible". Selbst unter fanatischen Antisemiten und skrupellosen Parteistrategen war der ehemalige Volksschullehrer umstritten bis verachtet.
Seine am 21. April 1923 erstmals erschienene Publikation war mit Abstand das meistgelesene und diskutierte Medium in der Zeit des Nationalsozialismus. Und dabei nicht einmal ein offizielles Medium der NSDAP, sondern in Personalunion als Herausgeber und Hauptschriftleiter Werk und Initiative von Julius Streicher. Der selbst ernannte "Frankenführer" hatte sich als "Berufsantisemit" seine publizistische Sonderstellung mit einer ganz eigenen Pressefreiheit "von Hitlers Gnaden" errungen. Die publizistische Tätigkeit, der er nach dem Ausscheiden aus dem Schuldienst nun nachging, war nicht nur eine wirtschaftliche Maßnahme, sondern auch das Ventil des eigenen Antisemitismus, den Streicher schon früh entwickelt hatte.
Antisemitismus in Millionenauflage
Die wöchentlich erscheinende Zeitschrift oder eine ihrer zahlreichen Sondernummern brachte es zu Spitzenzeiten Mitte der 1930er-Jahre auf Auflagen von bis zu einer Million pro Ausgabe. Kennzeichen des "Wochenblatts zum Kampfe um die Wahrheit" (so der Untertitel) waren reißerische Überschriften, in denen es um Rassenschande, Ritualmorde oder andere "jüdische Gräueltaten" ging. Meist garniert mit Judenkarikaturen des Hauptzeichners Philipp Rupprecht alias "Fips", die Juden mit antisemitischen Klischees verunglimpften und die Bildsprache mit wulstigen Lippen, hervortretenden Augen und krummer Nase bis heute prägen und gerne als krasser Gegensatz zu durchtrainierten, geschniegelten Männern oder unschuldig bis attraktiv wirkenden Frauen augenscheinlich deutscher Herkunft gesetzt wurden. "Die Juden sind unser Unglück!" prangte bald als Unterzeile auf jedem Zeitungscover.
Der Info-Gehalt der in Frakturschrift verfassten Artikel dazu hielt sich in Grenzen. Größtenteils wurden angeblich von Juden begangene Verbrechen thematisiert und einzelne Personen diffamiert. Nicht nur Juden. Auch, wer sich mit diesen abgab oder in einem jüdischen Geschäft beim Einkaufen gesehen wurde, musste damit rechnen, demnächst im "Stürmer" abgebildet zu sein und selbst Gegenstand der Hetze zu werden. Spätestens, als die Rubrik "Briefkasten" eingeführt worden war, mutierte die Zeitschrift zur Denunziationsfabrik einer sich dem Skandal und Skandalisieren hingeben Leserschaft, die sich, wie Melanie Wager herausgefunden hat, nicht über Bildungsgrad, Geschlecht oder Altersklasse definieren lässt, sondern ein breites Spektrum der Gesellschaft abbildete.
Wer hat es gelesen?
"Mich haben aber immer die Leser interessiert", sagt Melanie Wager. Als sie sich im Jahr 2008 aufmachte, ihre Doktorarbeit anzugehen, hätte sie sich aber nicht träumen lassen, welch schwerer Aufgabe sie sich da aufhalst. Zwölf Jahre Arbeit wurden daraus – nicht nur der tiefen Recherche geschuldet, sondern auch der Arbeit am Doku-Zentrum mit regelmäßigen Ausstellungen zum Vorbereiten. "Ich habe mir immer wieder ganze Urlaubswochen genommen, um voran zu kommen. Als während der ersten Corona-Monate plötzlich viel Zeit da war, habe ich das Buch abgeschlossen", erinnert sie sich.
Streicher war zuvor schon mehrfach in Biographien oder anderen wissenschaftlichen Arbeiten thematisiert worden – jetzt sollte es um seine Rezipienten gehen.
"Es wurden bereits 1949 Menschen befragt, ob sie den Stürmer gelesen oder gar abonniert hatten und wie sie das Gelesene empfunden hätten. Dabei zeigte sich zwar, dass nahezu jeder das Blatt kannte. Aber vier Jahre nach Ende des Krieges waren die Antworten doch noch eher zurückhaltend formuliert, weil sich nur wenige wohl ehrlich machen wollten", meint Wager.
Wohlwissend, dass eine wissenschaftliche Analyse der Rezeption des "Stürmer" aufgrund der nicht mehr lebenden Zeitzeugen an ihre Grenzen stößt, sprechen die zahlreichen veröffentlichten Einsendungen eine klare Sprache. Wager legt zudem ein Verzeichnis von über 2000 Standorte der "Stürmerkästen" vor. "Die Interaktion von Schriftleitung und Community macht die Funktion eines spezifischen Wirkungsgeschehens sichtbar", schreibt sie.
Ein Blatt als Denunziationsfabrik
Wer mehr Aufschluss über die Leser des "Stürmer" erhalten will, liest am besten in den Ausgaben selbst nach. Charakteristisch erwähnt Wager ein vom einen Leser eingesandtes Foto einer Frau, die "beim Juden eingekauft" haben soll – mit dem lakonischen Nachsatz, dass deren Mann beim Stadttheater arbeite. Prompt meldete sich dieser in einer späteren Ausgabe selbst zu Wort im Stürmer und versicherte, dafür zu sorgen, dass seine Frau diese Einkaufsentscheidung künftig nicht mehr treffen werde. Wager schreibt zudem über eine andere Frau, die sich bei ihrer jüdischen Ärztin und Freundin entschuldigt, wenn sie in der Öffentlichkeit nicht mehr neben ihr her liefe, sondern Abstand nehme, bevor sie beide jemand fotografiere und das Bild an den "Stürmer" sende.
In seinem in der Haft in Nürnberg kurz vor seinem Tod verfassten "politischen Testament" beschreibt Julius Streicher seine Leserschaft so: "Das Volk selbst war zum Mitarbeiter geworden durch Lieferung von Stoff und durch seine uns immer wieder anfeuernde Mithilfe durch Verbreitung des Kampfblattes. Da standen plötzlich an Straßenecken deutscher Städte Männer und Frauen und boten den Stürmer zum Kaufe an. Viele von ihnen wurden von Terroristen angespien und auch zu Krüppeln geschlagen."
Die Quellenarbeit gestaltete sich recht ambivalent: Vom "Stürmer" existieren in städtischen Archiven zwar fast sämtliche über 1000 erschienenen Exemplare. Jedoch gibt es kein Personalverzeichnis, keine Registratur und an sich nur wenige originale Belege über die Arbeit der Schriftleiter und Mitarbeiter. Aus den Spruchkammerakten im Zuge der Entnazifizierungsverfahren könne man, so Wager, noch einiges über die Mitarbeiterschaft lesen, wobei ein jeder freilich versucht hatte, sein Engagement möglichst kleinzureden.
Viele Akten gingen nach Bombenangriffen auf Nürnberg verloren, bei denen auch das Verlagsgebäude in der Pfannenschmiedsgasse getroffen worden war. Andere scheinen bewusst im Angesicht des Einmarsches der Alliierten vernichtet worden. Immerhin können Rückschlüsse über die Einnahmen des Verlages bei den bayerischen Finanzbehörden dieser Jahre genommen werden.
Die Stürmerkästen als Massenmedium
Fest steht aber, dass ein Netzwerk an Mitarbeitern und Korrespondenten des "Stürmers" von Nürnberg aus im gesamten deutschsprachigen Raum operierte. Dazu kamen die "Stürmerkästen" als Aushangplätze der Seiten an mehreren hundert Stationen in kleineren wie größeren Städten. Um die herum versammelten sich die Menschen zum Lesen und Diskutieren über die von einem bis dato völlig neuartigen antisemitischen Boulevard mit maximal-sensationsorientierter Text-Bild-Kombination strotzenden Inhalte. Die Kästen selbst waren bis zum Beginn des Krieges auch oft Gegenstand der Berichterstattung.
Widerstand gegen die Verunglimpfung der eigenen Person, des Betriebs oder gar der Religionsgemeinschaft gab es nur selten. Melanie Wager erwähnt aber immerhin die Eingaben einiger Kirchenvertreter, die sich gegen die Hetze stark gemacht hatten. So muss sich der Ortsgeistliche von Nordheim am Main mit zahlreichen Briefen an gemeindliche und behördliche Stellen gewandt haben, um die Aushänge im örtlichen Stürmerkasten stark zeitlich zu begrenzen. In Nieder-Weisel hatte ein Pfarrer seine Konfirmanden 20 Mal den Satz "Vor der Konfirmandenstunde darf man nicht im Stürmerkasten lesen" schreiben lassen. Beide Vorfälle wurden von der Redaktion im Blatt hämisch kommentiert.
Der evangelische Landeskirchenrat wandte sich im November 1936 an den Nürnberger Stadtschulrat Fritz Fink mit der Bitte, die Kästen aus den Nürnberger Schulhäusern zu entfernen. Die Angelegenheit ging über den hitlertreuen Oberbürgermeister Willy Liebel, der sich an die Regierung von Unterfranken mit dem Hinweis wandte, dem Aufruf nicht Folge leisten zu werden. Postwendend kam auch von Regierungspräsident Hans Dippold die Antwort, dass allmählich auch der Landeskirchenrat sich damit abfinden müsse, "dass im Gau Franken vor allem in der Judenfrage eine schärfere Gangart eingeschlagen wird."
Protest kam auch im Juni 1936 vom katholischen Bischof von Berlin, der sich beim Reichs- und Preußischen Minister für kirchliche Angelegenheiten Hanns Kerrl gegen die Beleidigungen des deutschen Episkopats beschwerte. Kerrl jedoch spielte den Ball zurück, indem er Kritik am Auruf der deutschen Bischöfe übte, die sich gegen die Werbung für das Deutsche Jungvolk ausgesprochen hatten.
Günstling Hitlers
Die Dauerpräsenz des "Stürmers" in der Öffentlichkeit, das belegbare aktive Werben um Abonnenten und Verteiler sowie dem Antisemitismus als "sozialer Kitt" in der NS-Volksgemeinschaftsideologie verfehlten ihre Wirkung nicht. Ein Mechanismus, der auch heute in Zeiten von sozialen Medien und "Hate Speech" greift. "In sozialen Netzwerken, analog wie digital, damals wie heute, werden grundlegende menschliche Bedürfnisse wie Sinn- und Identitätsstiftung, Zugehörigkeit und Teilhabe, Selbstwirksamkeit und –ermächtigung erfüllt", meint Wager. Sie kommt zu dem Schluss, das gestern wie heute das Individuum das "wichtigste Organ der Demokratie" und "zugleich sein labilstes" sei.
Da Streicher bereits früh seine Ortsgruppe der Partei Adolf Hitler "zu Füßen gelegt" hatte, wie er später bekundete, und am 9. November 1923 mit dem späteren "Führer" an dessen Putschversuch beteiligt war, hielt Hitler zeitlebens seine Hand über Streicher. Auch nachdem dieser wegen Korruptionsvorwürfen und allzu harschem Auftreten in der Öffentlichkeit von einem Parteigericht im Februar 1940 von seinen Ämtern enthoben wurde, konnte Streicher seinen zuvor mehrfach beschlagnahmten "Stürmer" weiter verbreiten – vom "Exil" auf dem Cadolzburger Pleikershof aus, den er sich als durch seine Hetzschrift reich gewordener Verleger leisten und dort ein auskömmliches Leben führen konnte.
Schluss war es für den "Stürmer" mit dem Erscheinen der letzten Ausgabe am 22. Februar 1945. Julius Streicher wurde bei den Nürnberger Prozessen zum Tode verurteilt und am 16. Oktober 1946 wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" hingerichtet. Dass der eng mit ihm verbundene Leiter des Nachrichtenwesens in der Presseabteilung des Reichspropagandaministeriums, Hanns Fritzsche, im selben Verfahren dagegen freigesprochen wurde, sorgte im Anschluss international für Diskussionen um das juristische Maß. Indiskutabel ist dagegen, dass der "Stürmer" ein perfides und schon damals für Viele abstoßendes Machwerk war, das bis heute seinesgleichen sucht.
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