Ihre Augen leuchten, wenn Lore Becker anfängt zu erzählen. Ein Vierteljahrhundert lang war sie Prädikantin, hat Gottesdienste geleitet und Predigt für Predigt geschrieben. "Ich habe meinen Lebensschatz in die Texte eingearbeitet", sagt sie. Auch wenn es keine offizielle Statistik gibt: Lore Becker dürfte mit ihren 84 Jahren und ihren 25 Dienstjahren im Prädikantenbereich der bayerischen evangelischen Landeskirche eine Besonderheit sein. Ende 2021 hat die Rentnerin ihr Ehrenamt in Gräfelfing (Dekanat Fürstenfeldbruck) bei München nun aufgegeben. Grund: Ihre Kräfte reichten nicht mehr aus für den Standard, den sie sich selbst setze.

Davon ist in ihrer Wohnung in München-Pasing wenig zu spüren. Die 84 Jahre sieht man Lore Becker nicht an, sie ist schlagfertig, offen und man merkt sofort: Lore Becker ist rumgekommen in der Welt und hat was zu erzählen. Aufgewachsen ist sie in Naumburg an der Saale, später studierte sie Anglistik und Germanistik, brach ihr Studium dann aber wegen der Familie ab und wurde Industriekauffrau. Doch ihr Herzensanliegen sei schon immer alles mit Sprache gewesen, sagt sie. Deshalb sei sei auch mit Feuereifer dabei gewesen, als ihr im Ruhestand das Ehrenamt der Prädikantin zugetragen wurde.

Im Ruhestand wurde ihr das Ehrenamt Prädikantin anvertraut 

Prädikanten sind ehrenamtlich im Kernbereich der Pfarrerinnen und Pfarrer tätig: Sie dürfen selbstständig Gottesdienste leiten, Predigten schreiben und vortragen und das Abendmahl ausgeben. Eingeführt wurde das Ehrenamt in Bayern im Zuge des Zweiten Weltkriegs, als auch die Pfarrer eingezogen wurden und nicht mehr ihren kirchlichen Dienst tun konnten. Das Ehrenamt der Prädikanten sei zwar aus der Not heraus geboren worden, sagt Gottfried Greiner vom Gottesdienst-Institut. Doch über die Jahrzehnte habe es sich zu einem typischen evangelischen Element der Verkündigung entwickelt. Heute gibt es in Bayern rund 900 Prädikantinnen und Prädikanten, 15 bis 20 Prozent der Gottesdienste werden bereits von Ehrenamtlichen geleitet.

Das Besondere: Prädikanten brauchen kein Theologiestudium, sondern können jeden beruflichen Hintergrund haben. Sie müssen allerdings eine Ausbildung zum Prädikanten durchlaufen, die durchaus anspruchsvoll ist. Etwas, das Lore Becker sehr gern getan hat. Predigtarbeit bedeute, dass man den Bibelabschnitt, um den es geht, "mit dem Kopf verstehen und mit dem Herzen begreifen muss", sagt sie. Alte Worte müssten für das moderne Leben ausgelegt werden. "Diese Mischung zwischen Intellekt und Herz hat mich immer fasziniert", sagt Becker.

Für Becker ist ein Gottesdienst ein anspruchvolles Kunstwerk 

Und sie hat einen hohen Anspruch an sich selbst: Ein Gottesdienst ist für sie ein Gesamtkunstwerk mit einem Spannungsbogen von der Begrüßung bis zum Schlusssegen - "nicht, dass den Leuten langweilig wird". Und Gottesdienst und Predigt müssten zur jeweiligen Gemeinde passen. Das alles sei eine richtige Kraftanstrengung gewesen: "Nach den Gottesdiensten hatte ich erstmal Rückenschmerzen", sagt sie. Eine Anstrengung, die sie etwa alle sechs Wochen auf sich genommen und die sich offenbar gelohnt hat. Denn zu ihrem Abschiedsgottesdienst im Dezember kamen mehr als 100 Menschen. "Die Kirche war knallvoll", freut sich Becker über so viel Zuspruch.

Wovon sie übrigens immer die Finger gelassen hat: vom Singen. "Um Gottes Willen, ich konnte noch nie singen", sagt sie trocken. Manchmal wünscht sie sich auch von anderen eine solche Einsicht. "Es kann sehr quälend sein, einem Pfarrer zuzuhören, bei dem man denkt: Oje, trifft er den nächsten Ton?"

Lore Becker war für die Gemeinde Gräfelfing eine Bereicherung 

Der Pfarrer von Gräfelfing, Walter Ziermann, sagt, es sei eine Bereicherung, Menschen wie Lore Becker in der Gemeinde zu haben: "biblisch fundiert, rhetorisch gewandt und mit Freude dabei, das Evangelium weiterzugeben." Es sei so wichtig, "dass wir Leute haben, die mal keine Pfarrerbrille aufhaben". Prädikanten sind für ihn daher auch keine Lückenbüßer, die angesichts des fortschreitenden Pfarrermangels entlasten sollen, sondern sie brächten ihren ganz eigenen Erfahrungsschatz mit, betonte Ziermann.

Als Lückenbüßerin hat sich Lore Becker ohnehin nie verstanden - im Gegenteil: Pfarrer müssten so viele thematisch unterschiedliche Dinge tun - Kindergärten verwalten, ein Taufgespräch führen, sich dann um einen Trauerfall kümmern oder einen Bibelkreis organisieren, erzählt sie. Sie dagegen konnte sich als Prädikantin mit ihrer Gottesdienst-Arbeit immer "die Rosinen rauspicken". Dafür sei sie unendlich dankbar.