Künftig sollen Krankenkassen den Bluttest zur Früherkennung von Trisomie 21 zahlen. Die evangelische Kirche befürwortet das – warum?

Anselm: Wir haben als "Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD" ein Positionspapier vorgelegt, das wir als evangelischen Beitrag zur Urteilsbildung und politischen Gestaltung verstanden wissen möchten. Das war ziemlich harte Arbeit. Mein persönliches Ziel als Vorsitzender dieser Kammer war es, eine Position zu finden, hinter der wir trotz unterschiedlicher Überzeugungen alle stehen können. Diesen Kompromiss haben wir dann auch dem Gemeinsamen Bundesausschuss vorgestellt – in wieweit dieser unseren Empfehlungen folgt, ist noch nicht ganz klar.

Was war die Empfehlung?

Anselm: Wir haben für ein Junktim plädiert. Der Test soll finanziert werden. Aber er soll in ein umfassendes Beratungskonzept eingebunden werden. Laut Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses wurde daraus nun ein "Informationskonzept" – aber da wissen wir noch nicht genau, was das genau heißt. Eigentlich bräuchten wir jetzt eine Fortsetzung unserer Aktivitäten, aber dafür gibt es wohl keine Ressourcen, weder in finanzieller noch in personeller Hinsicht. Das treibt mich um.

Gab es Diskussionen?

Anselm: Wir waren uns einig, dass es naiv wäre, zu glauben, dass die Schwangeren diesen Bluttest nicht wollen und nicht machen werden. Der Grundgedanke des Papiers besteht vor diesem Hintergrund dann darin, zu sagen, dass wir diese Frage als gesellschaftliche Aufgabe begreifen und sie nicht in das Private abdrängen möchten. Das bedeutet, diese Tests im Rahmen der Mutterschaftsvorsorge anzubieten und sie mit dem Angebot einer umfassenden ethischen Beratung zu verbinden. Denn verantwortlich entscheiden kann nur, wer umfassend und neutral beraten wird. Allerdings möchten wir den Test auf Risikoschwangerschaften beschränkt sehen und auf die Trisomien 13, 18 und 21.

Werden diese Tests und ihre Kassenfinanzierung nicht Auswirkungen haben auf Behinderte?

Anselm: In der Tat kamen dies stärksten Bedenken gegen unsere Position aus den Behindertenverbänden. Deren Positionen haben sich in unserem Papier auch stark niedergeschlagen. Sie sind in dem Papier fast überrepräsentiert - im Verhältnis zu der Perspektive und der Interessen der Schwangeren.

Den Gedanken, dass Behinderte diskriminiert werden, wenn Frauen die Schwangerschaft abbrechen, halte ich persönlich aus moralphilosophischen Gründen nicht für tragfähig. Diskriminierung kann nicht von Entscheidungen im Privatbereich ausgehen. Wenn ich als Mann entscheide, nicht mit einer farbigen Partnerin zusammenleben zu wollen, ist das keine Diskriminierung, sondern eine private Entscheidung über eine Beziehung.

Außerdem steht die Behauptung, dass der Ausbau der Pränataldiagnostik zu einer immer stärkeren Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen führt, auf sehr wackligem Fundament. Empirischen Studien zufolge ist im Gegenteil die Sensibilität für die Probleme von Behinderten trotz des massiven Ausbaus der pränatalen Diagnostik kontinuierlich höher geworden. Es kann keineswegs die Rede davon sein, dass wir in eine behindertenfeindliche Gesellschaft gehen.

 

DIGITALISIERUNG & MEDIZIN

Sie leiten ein Forschungsprojekt zum Thema Digitalisierung und Medizin – wo sehen Sie da die größten Herausforderungen?

Anselm: Uns beschäftigt die Frage, wie wir das Verhältnis zwischen der Patientenautonomie und dem gesellschaftlichen Interesse nach einem medizinischen Fortschritt in Zukunft modellieren sollen. Derzeit stellen wir den Patienten und seine Selbstbestimmung in den Vordergrund. Aber müssten wir nicht auch sagen, dass es so etwas gibt wie eine gesellschaftliche Verpflichtung für den Einzelnen, an medizinischer Forschung mitzuwirken?

Das ist keinesfalls eine theoretische Frage. Denn in vielen Bereichen der Medizin können wir signifikante Fortschritte nur noch erreichen, wenn wir die molekulare und genetische Struktur zum Beispiel von Krebs- oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen besser verstehen. Da kommen wir nur hin, wenn wir große Datenmengen miteinander vergleichen. Das setzt aber voraus, dass die Betroffenen ihre genetischen Daten der Forschung zur Verfügung stellen und einer solchen Nutzung nicht widersprechen. Derzeit modellieren wir das so, dass jeder und jede ausdrücklich zustimmen muss und ihnen natürlich jederzeit ein Widerspruchsrecht eingeräumt wird.

Aber ist diese Zugangsweise eigentlich verträglich mit unserer Auffassung des Sozialstaats? Hier müssen wir intensive Diskussionen führen, wie wir das Schutzinteresse gegenüber dem Einzelnen mit den Interessen anderer Kranker in Ausgleich bringen können. Kann es hier vielleicht sogar so etwas wie eine Verpflichtung des Einzelnen gegenüber dem Gemeinwesen? Das ist eine sehr unpopuläre und ganz schwierige Frage, die wir zum Beispiel auch in der Organspende haben.

Und ich glaube, dass wir als Christinnen und Christen gute Argumente haben zu sagen: Du kannst nicht nur dich selbst sehen, sondern du musst dich auch in der Gemeinschaft verorten können, ohne dass wir in der Gemeinschaft aufgehen. Die Freiheitsrechte müssen also bleiben, aber die Gemeinschaft muss auch zum Ausdruck gebracht werden.

Im Prinzip geht es um das Verhältnis von Liberalismus und Kommunitarismus in der Krankenversorgung. Das Problem ist sehr dringlich – und betrifft extrem viele Menschen. Gerade wir als Kirche sind wahrscheinlich die einzigen Player, die diese Diskussion führen können, weil wir keine Aktien im Spiel haben – anders als ein Mediziner oder Gesundheitspolitiker.

 

Weiter zum gesamten Interview mit Professor Reiner Anselm.

Nichtinvasive Pränataldiagnostik

Ein evangelischer Beitrag zur ethischen Urteilsbildung und zur politischen Gestaltung, Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD, 2018

Vorwort

Die Mittel und Möglichkeiten moderner Medizin weiten sich ständig aus. Diagnostische und therapeutische Verfahren haben eine Tiefe und Genauigkeit erlangt, die für vorangegangene Generationen unerreichbar schienen. Die Leistungen der Medizin und die Heilkunst von Ärztinnen und Ärzten kommen vielen kranken und leidenden Menschen zugute. Dafür sind wir sehr dankbar! Mit den Möglichkeiten aber wächst auch der Sinn für die Ambivalenzen: Ist eigentlich alles, was möglich ist, auch gut und förderlich? Nicht nur, aber vor allem mit Blick auf den Zugriff auf das menschliche Leben an seinem Anfang und seinem Ende stellen sich Fragen. Die leidenschaftlichen Debatten etwa um den »assistierten Suizid« oder auch gegenwärtig wieder um den Schwangerschaftsabbruch und den § 219a des Strafgesetzbuches machen deutlich, wie hoch hier der Bedarf und die Notwendigkeit zu Austausch und auch Auseinandersetzung ist. Dabei geht es niemals nur um fachliche oder technische Fragen. So wichtig eine nüchterne, faktenbasierte Bewertung neuer Methoden oder Medikamente ist – hinter diesen Fragen melden sich immer auch die moralischen Grundfragen der persönlichen Lebensführung und des gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Im Falle der Nichtinvasiven Pränataldiagnostik (NIPD) hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), der eine Aufnahme dieser genetischen Bluttests in die Regelleistung der Gesetzlichen Krankenversicherung zu prüfen hat, selbst eine solche umfassende gesellschaftliche Debatte um die ethischen Fragen angemahnt. Machen wir uns deutlich, worum es hier geht: Die Frage ist, ob die flächendeckende Einführung von genetischen Bluttests bei Risikoschwangerschaften dazu führen kann, dass Kinder mit Beeinträchtigungen, insbesondere mit Trisomien, künftig nicht mehr geboren werden. Wäre dann mit der Entscheidung für die Nichtinvasiven Pränataltests (NIPT) auch eine Entscheidung für eine Gesellschaft ohne Kinder mit Trisomien verbunden? Wie aber wäre dies mit dem Schutz des ungeborenen Lebens und mit den Verpflichtungen der UN-Behindertenkonvention vereinbar? Spürbar ist, dass hier sehr drängende Fragen im Raum stehen, die auch die Grundlagen unserer liberalen rechtsstaatlichen Ordnung betreffen.

Der Rat der EKD hatte die Kammer für Öffentliche Verantwortung gebeten, zur Frage einer evangelischen Position in dieser gesellschaftlichen Debatte eine Stellungnahme zu erarbeiten. Ich danke der Kammer und besonders ihrem Vorsitzenden Prof. Dr. Reiner Anselm für den hier vorgelegten Beitrag. Die Kammer hat ihren Beitrag bewusst mit einer doppelten Zielrichtung versehen: Er ist positionell, insofern er eine klare Empfehlung in der anstehenden politischen Entscheidung abgibt. Und er ist diskursiv, insofern er Argumente einführt, abwägt und so zu einer eigenverantwortlichen ethischen Urteilsbildung anleiten und ermutigen will.

Der Rat der EKD hat sich in seiner Sitzung am 26. Mai 2018 diese Empfehlung der Kammer und ihre ethische Reflexion zu eigen gemacht. Die Kammer empfiehlt grundsätzlich, die Nichtinvasiven Pränataltests (NIPT) aufgrund ihres für die schwangere Frau und das ungeborene Kind erheblich schonenderen Charakters in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung aufzunehmen. Diese zustimmende Empfehlung ist allerdings daran geknüpft, dass eine neue psychosoziale, dem Lebensschutz verpflichtete Beratung eingeführt wird, die schwangere Frauen und Paare darin begleitet, eine individuell verantwortete Entscheidung darüber zu fällen, ob sie den genetischen Bluttest durchführen wollen und in der Lage sind, die sich daraus etwa ergebenden Folgen zu tragen. Ohne eine solche Beratung erscheint die Einführung der NIPT als Regelleistung der Gesetzlichen Krankenversicherung der Kammer und dem Rat der EKD nicht als zustimmungsfähig.

In dieser konditionierten Zustimmung zu den NIPT im Rahmen eines gesellschaftlich verankerten Beratungskonzeptes zeigt sich: Die verantwortliche Selbstbestimmung der betroffenen Menschen wird für die evangelische Kirche immer besonderes Gewicht haben – ebenso aber auch der Blick auf die Würde des ungeborenen Kindes, das geliebtes Geschöpf des gnädigen Gottes ist. Diese besondere Perspektive des christlichen Glaubens ist auch, so unsere Überzeugung, tief verankert in den moralischen und rechtlichen Grundlagen unseres Gemeinwesens und reicht damit in ihrer Bedeutsamkeit über den Kreis der Christinnen und Christen hinaus. Die hier vorgelegten evangelischen Impulse verstehen wir in diesem Sinne als einen Beitrag in den nun anstehenden öffentlichen Debatten um Nichtinvasive Pränataldiagnostik – und darüber hinaus um den künftigen Umgang mit dem ungeborenen Leben insgesamt.

Hannover, im Oktober 2018

Dr. Heinrich Bedford-Strohm
Landesbischof
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

 

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