KLIMASCHUTZ & ETHIK
Wer verhält sich richtiger: Die Aktivitistin Greta Thunberg oder der bayerische Landesbischof Bedford-Strohm mit seiner Forderung nach einem Schiff für die Seenotrettung?
Anselm: Beide Formen des Engagements haben relativ gesehen ihr Recht. "Richtig" bezeichnet allerdings in der Ethik etwas, was unbedingt, universal gültig ist. Wenn man das anlegt, sind die Forderungen von beiden nicht im strikten Sinne universalisierbar – also auch nicht richtiger oder weniger richtig. Etwas anderes ist es, ob es ein gutes Verhalten ist, ob es also etwas ist, das mit den Zielen übereinstimmt, die man selbst für erstrebenswert hält. Und dann gilt in meinen Augen: Beide verfolgen ein erstrebenswertes Ziel, aber ihre Forderungen sind nicht von der Art, dass sie notwendig auch schon für alle verbindlich sein können.
Die Idee von Greta Thunberg, die Menschen aufzurütteln und sie zu mehr klimafreundlichen und klimaschützendem Handeln zu motivieren, ist sicherlich zu begrüßen. Das Gleiche gilt auch für unseren Landesbischof, hier würde ich es aber differenzierter sehen: Natürlich wird man aus christlicher Sicht immer sagen müssen: Ja, du musst du dich für die Seenotrettung einsetzen. Allerdings bezweifle ich, dass man dies unbedingt mit einem eigenen Rettungsschiff verbinden muss.
Denn trägt das Schiff substanziell zum Ziel bei? Wäre es nicht besser gewesen, etablierte Rettungsorganisationen zu unterstützen? Die evangelische Kirche ist keine Reederei. Und worin besteht eigentlich das Ziel? In einem symbolischen Akt? Das ist für sich genommen durchaus legitim, allerdings muss die Rückfrage erlaubt sein, ob es wirklich dazu beiträgt, dass künftig keine Menschen mehr ertrinken oder ob es zuvörderst der Selbstdarstellung der Kirche dient. Dann finde ich es problematisch.
Dass der Beitrag zu dem sehr erstrebenswerten Ziel, dass keine Menschen mehr ertrinken, sehr überschaubar ist, dürfte unstrittig sein. Vielleicht erschwert er dieses Ziel sogar, weil der zur weiteren Polarisierung beiträgt.
Braucht die Kirche mehr Bewegungen wie etwa "Fridays for future"?
Anselm: Mein Eindruck ist, dass sich Kirche selbst derzeit im Wesentlichen als Bewegung darstellt. "Bewegung" haben also im Augenblick genug. Aber wir haben große Probleme damit, zu zeigen, was Kirche ausmacht: Nämlich eine Institution zu sein, die Moral und die Lebensformen des Christentums präsent hält – jenseits von kurzfristigem Aktionismus und punktuellen Engagement.
Es fällt uns leicht, die Menschen für temporäre Aktionen zu mobilisieren. Aber es fällt uns wahnsinnig schwer, die Leute zu binden und sie zu motivieren auch dann bei uns zu bleiben, wenn es gerade mal nicht mit ihren direkten Interessen einhergeht.
KIRCHE & POLITiK
Welche Bedeutung hat Kirche in der Politik?
Anselm: Die Resonanz des Christentums im Raum des Politischen ist deutlich größer, als es der Bedeutung entspricht, die ihm Menschen in ihrem eigenen Leben zumessen. Im politischen Raum gibt es viele, die persönlich mit dem christlichen Glauben eigentlich nicht mehr so wahnsinnig viel anfangen können, das Christentum und die Kirche aber als eine moralische Instanz doch irgendwie gut finden. Das ist sogar messbar. Ein Beispiel: Es gibt, zu Beispiel in der Kommission zur ethischen Bewertung der Stammzellforschung oder der Präimplantationsdiagnostik, Gremien, bei denen erst in jüngster Zeit gesetzlich geregelt wurde, dass ihnen auch Vertreter der Kirche oder Theologie angehören. Dies widerspricht der allgemeinen Säkularisierung in unserer Gesellschaft.
Und welche Rolle spielt da der Ratsvorsitzende Bedford-Strohm?
Anselm: Als Ratsvorsitzender ist Bedford-Strohm eine öffentliche Figur. Er ist mehr als ein öffentlicher Intellektueller – eher so eine Art öffentliche Moralinstanz. Aber das sorgt nicht unbedingt dafür, dass sich Menschen wieder stärker zur Kirche bekennen oder für sie einsetzen würden. Deswegen kann man keinen direkten Konnex schaffen zwischen einem Vertreter von ethischen Positionen in der Öffentlichkeit und der Stabilität der Kirche. Das fällt in einer eigenartigen Weise auseinander.
Und was die harten Fakten der Mitgliedschaft angeht, so glaube ich, dass diese ethisch klare Positionierung, wie sie der Ratsvorsitzende öffentlich vertritt, eher zu einer Polarisierung führt. Manche finden das ganz prima und bleiben deswegen in der Kirche. Aber viele treten auch aus der Kirche aus.
Muss sich die kirchliche Öffentlichkeitsarbeit verändern?
Anselm: Wir haben eine hohe mediale Konzentration auf den Ratsvorsitzenden. Klar ist auch, dass wir in den letzten dreißig Jahren eine Bewegung hatten von der christlichen Publizistik hin zu einer kirchlichen Öffentlichkeitsarbeit. Und das fällt uns jetzt etwas auf die Füße: Kirche wird nicht mehr als Forum wahrgenommen, in dem viele unterschiedliche Positionen und Sichtweisen eine Verständigung suchen. Das schadet in meinen Augen dem Ansehen der Kirche. Denn es ist nur noch ein kleiner Schritt zu einem "Der da" an der Spitze und dem "Wir", das dadurch nicht mehr repräsentiert wird.
Abhilfe ist aber nicht einfach. Denn selbstverständlich könnten wir ja auch eine kirchliche Öffentlichkeitsarbeit machen, die plurale Vielgestaltigkeit des Protestantismus herausstellt. Aber das bricht sich mit der medialen Logik. Wenn ein Thema politisch zu kommentieren ist, dann wird nur einer gefragt, nur für ein Statement ist Platz in einem Beitrag oder einer Sendung. Das vor Augen, würde ich die Spitzenleute ermahnen, sich stärker in den Dienst der Institutionen zu stellen. Ein Bischof spricht eben nicht für sich, sondern er spricht für seine Kirche.
Richtig ist aber auch: In der Konzentration auf einen Einzelnen kehrt sich ein Merkmal des Protestantischen gegen die Institution Kirche. Denn jeder einzelne Protestant nimmt für sich in Anspruch, für den ganzen Protestantismus zu sprechen – häufig theologisch garniert mit dem Verweis das allgemeinen Priestertums Aber das geht natürlich nur, wenn alle zur Sprache kommen. Wenn nur noch einer gefragt wird, dann sieht es so aus, als ob es nur eine legitime Position im Protestantismus gibt.
THEOLOGIE & HOCHSCHULEN
Aktuellen Studien zufolge wird sich die Zahl der Kirchenmitglieder bis 2060 fast halbieren. Was bedeutet das für das Theologiestudium?
Anselm: Es macht mich unruhig. Ich muss gestehen, dass ich von der Linie meines Lehrers Trutz Rendtorff mittlerweile weit weg bin. Rendtorff meinte, es könnte so etwas geben wie ein Christentum außerhalb der Kirche, das sich nicht in der Kirchenmitgliedschaft niederschlägt. Heute wissen wir: Wenn Menschen nicht mehr in der Kirche sind, dann sind sie spätestens in der nächsten Generation auch keine Christen mehr.
Im Blick aufs Theologiestudium habe ich das Gefühl, dass wir mit den kleinen Zahlen, die wir haben, den Rückgang der Kirchenmitglieder eigentlich schon vorweggenommen haben. Nur wenige entscheiden sich heute noch für die Ausbildung zur Pfarrerin oder zum Pfarrer. Wir decken zwar derzeit den Bedarf der bayerischen Landeskirche. Aber das ist kein guter Zustand. Es wäre aber besser, wir würden mindestens ein Drittel mehr Theologen ausbilden, damit die Kirche auch auswählen kann. Faktisch ist es ja im Augenblick so: Wer das Theologiestudium anfängt, durchhält und ein Examen macht, findet sich nachher im Pfarramt wieder.
Hat sich das Image des Pfarrerberufs geändert?
Anselm: Der Beruf hat keinen besonders guten Leumund mehr. Viele Studierende haben den Eindruck, dass Pfarrerinnen und Pfarrer wie verrückt arbeiten, ohne dass es einen messbaren Erfolg, einen Zusammenhang zwischen Aufwand und Ergebnis gibt. Das führt zu einer merkwürdigen und schwierigen, aber irgendwie auch konsequenten Berufsauffassung: Manche Studierende folgern daraus, es habe gar keinen Sinn sich besonders anzustrengen, denn entweder es klappt mit dem Geist oder eben nicht. Diese Stimmung strahlt aus bis zum Studienverhalten.
Was erwartet die "Generation Z" vom Pfarrberuf?
Anselm: Wenn man mit unseren Studierenden spricht, dann ist der Beamtenstatus am Pfarrberuf das Allerwichtigste. Wir rekrutieren eine Schicht, der dieser Status besonders wichtig ist. Dafür ist diese Generation auch bereit, die alten Sprachen zu erlernen - wenn das Voraussetzung für das Berufsbeamtentum ist, dann muss man das eben hinter sich bringen. Dieses Beamten-Image ist aber schwierig für diejenigen, die sich für die Theologie interessieren, aber vielleicht nur kurzfristig bei der Kirche arbeiten wollen. Leider gibt es für diese Menschen derzeit nur wenig Modelle.
Ich bin aber überzeugt: Wir brauchen gerade diese Studierenden. Wir müssen überlegen, wie wir wieder interessantere Köpfe an unsere Lehrstühle bekommen. Meiner Meinung nach geht das nur, wenn Pfarrerinnen und Pfarrer, Religionslehrerinnen und Religionslehrer gezielt Abiturienten ansprechen. Und auch wir als Professorinnen und Professoren müssen die Leute ansprechen und fragen, ob nicht Theologie etwas für sie wäre.
Wie sehen Sie die Zukunft der theologischen Fakultäten in Deutschland?
Anselm: Im Augenblick haben wir keine harte Diskussion über die Zukunft der theologischen Fakultäten. Im Kontext schlechter werdenden öffentlichen Finanzen wird sich das ändern. Sachlich ist die Sache deswegen komplex und schwierig, weil wir hin- und hergerissen sind zwischen verschiedenen Zielen:
Um das Ausbildungsniveau zu erhöhen, bräuchten wir eigentlich weniger theologische Fakultäten. An Fakultäten wie unserer an der LMU München haben wir oft zu kleine Seminare, um Themen wirklich aus verschiedenen Perspektiven durchdenken zu können.
Aber der Preis, den wir für eine Konzentration und eine bessere Ausbildung letztlich zahlen müssten, wäre hoch. Denn es würde bedeuten, dass wir Universitäten ohne Theologie hätten. Und das würde dem Modell der Volkskirche entgegenlaufen. Wir hätten dann beispielsweise in Süddeutschland zwei große theologische Fakultäten mit tausend Studierenden – und an anderen Hochschulen oder in Ostdeutschland keine Theologie mehr. Gerade im Blick auf die Lehramtsstudierenden könnte das schnell eine problematische Entwicklung nehmen. Denn Lehramtsstudierende richten sich sehr oft nach dem Angebot, das es vor Ort, an ihrer Heimathochschule gibt. Wenn an der das Fach Religion nicht angeboten wird, werden sie eher ein anderes Fach studieren als den Studienort zu wechseln.
Eine Alternative zur Konzentration der Standorte wäre es vielleicht, das Studium an Theologischen Fakultäten stärker abzukoppeln von dem Ausbildungsauftrag für Pfarrerinnen und Pfarrer. Theologie als eine umfassende Kulturwissenschaft beispielsweise. Doch auch das ist nicht ohne Risiko. Denn unsere staatskirchenrechtliche Absicherung bezieht sich eben nur auf die Ausbildung von Pfarrerinnen und Pfarrer.
Bleibt eine intensivere Werbung für das Studium. Ich glaube, dass wir ein wirklich interessantes, breit gefächertes Studium anbieten können. Aber wie gesagt: Dieses breite Spektrum spiegelt sich nur bedingt in unserer Studierendenschaft.
Würden Sie heute wieder Theologie studieren?
Anselm: Ich bin mir nicht sicher, ob ich eine Hochschullaufbahn wählen würde. Aber Theologie würde ich wieder studieren, vielleicht sogar an meiner alten Universität Göttingen. Es ist nach wie vor ein interessantes Studium, auch in seiner ganzen Breite. Und es qualifiziert für ein sehr breites Spektrum an beruflichen Tätigkeiten als Pfarrerin oder Pfarrer. Anders als in meinem Studium würde ich heute aber nicht nur im deutschen Sprachraum wechseln, sondern auch die Berufstätigkeit ist interessant. eine der Universitäten des globalen Südens, um eine andere Form des Christentums kennenzulernen.
Beruflich würde ich mich heute vielleicht stärker an die Schnittstelle zwischen Kirche und Gesellschaft begeben. Das versuche ich zwar mit meiner Forschung und meinem Engagement in der EKD auch. Aber in der akademischen Theologie ist das zunehmend schwierig, weil wir in der Logik der universitären Benchmarks, besonders der Drittmittelforschung unterworfen sind. Da kann man mit solchen Themen keinen Blumentopf gewinnen. Und das empfinde ich manchmal als Zerreißprobe – weil ich das Eine machen muss und das Andere machen will.
CHRISTENTUM HEUTE
Was ist die größte Herausforderung für das Christentum heute?
Anselm: Wir können nicht mehr so richtig sagen, was es bedeutet, ein christliches Leben zu führen. Als Lehrer oder als Ärztin können wir am Freitag zur Klimademo gehen oder für Seenotrettung demonstrieren. Aber jenseits des kurzfristigen punktuellen Aktionismus haben wir echte Schwierigkeiten, zu sagen, was ein christliches Leben bedeutet.
Das treibt mich sehr um, zumal ich aus einer liberalen Tradition komme, die lange der Ansicht war, dass auf diese Fragen jeder für sich selbst eine Antwort finden muss. Das setzte aber voraus, dass ich in meiner Umgebung genügend Muster gibt, zu denen ich mich ins Verhältnis setzen kann und muss. Aber wenn dies alles immer weniger vorhanden ist – wie komme ich dann zu einer eigenen Antwort?
Was uns fehlt, ist ein christliches Ethos, das uns sagt, wie man als Christ lebt. Was heißt es, eine christliche Ehe zu führen? Im christlichen Sinne Kinder zu erziehen? Als Politiker eine christliche Position zu vertreten? Hier muss sich die akademische Ethik mehr engagieren als bisher.
Schafft sich der Protestantismus selbst ab?
Anselm: Ja, gewissermaßen leiden wir unter unserer eigenen Erfolgsgeschichte. Wesentliche Maßstäbe des christlichen, liberalen Ethos sind selbstverständlich geworden und eingegangen oder von anderen übernommen worden. Aber zu sagen, macht euch keine Sorgen, es geht alles gut, die Zivilgesellschaft übernimmt die Rolle des Protestantismus – da bin ich heute sehr vorsichtig geworden.
Spätestens seit Pegida haben wir die hässliche Seite der Zivilgesellschaft kennengelernt. Unsere liberale, menschenrechtsbasierte Gesellschaft ist fragiler, als wir gehofft hatten. Die Vorstellung vom protestantischen Ende der Geschichte, die manche nach der friedlichen Revolution von 1989 hatten, hat sich als trügerisch erwiesen.
Die Ideen für eine liberale, menschenrechtlich imprägnierte Gesellschaft müssen immer wieder neu angestoßen und am Leben erhalten werden. Aber wer macht das? Meiner Überzeugung nach liegt hier die besondere Aufgabe der Kirche heute. Denn auch wenn es lange gedauert hat: Die evangelische Kirche und der Protestantismus stellen heute eine wichtige, wenn nicht gar die wichtigste Quelle für die Überzeugungen dar, die eine liberale, rechts- und sozialstaatliche Ordnung tragen und lebendig halten. Denn es es ist eben nicht selbstverständlich, den anderen als anderen gleichberechtigt anzuerkennen.
Die Überzeugung, dass jeder Mensch gleichermaßen ein Geschöpf Gottes ist, dass Versöhnung in ethischer Perspektive bedeutet, den anderen oder die andern in ihrer Individualität als Teil der Gemeinschaft zu verstehen und dass die Hoffnung auf Erlösung alle weltlichen Strukturen als vorläufige und wandelbare begreifen lernt – all das sind die Grundlagen einer liberalen Ordnung, die es wach zu halten gilt. Und das ist viel komplizierter als wir uns das lange Zeit gedacht haben.
Verschwindet das Christentum aus dem Alltag?
Anselm: Der christliche Habitus war viel mehr in die Allgemeinheit einbezogen. Nehmen sie den Kontext, in dem ich aufgewachsen bin. Ich war auf einem humanistischen Gymnasium. Das war nicht explizit christlich. Aber die lateinischen Übungstexte waren völlig durchwirkt von einem allgemeinen christlichen Ethos. Dazu konnte man sich ins Verhältnis setzen. Aber diese Form der Selbstverständlichkeit ist einfach nicht mehr da. Das hat mit Pluralisierung zu tun und mit innerdeutscher Migration.
Heute haben wir sehr unterschiedliche Frömmigkeitsstile, die es schwer machen, miteinander ins Gespräch zu kommen und zudem haben wir verlernt, über diese Fragen zu sprechen. Das alles ist schnell diagnostiziert, aber es ist enorm schwer, Lösungen dafür zu finden.
FORSCHUNG ZU PROTESTANTISMUS
Sie haben soeben ein durch die DFG gefördertes Forschungsprojekt zum "Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik 1949-1989" beendet. Welche Ergebnisse haben Sie überrascht?
Anselm: Wir wollten das Christentum außerhalb der Kirche finden. Deswegen war auch der Titel bewusst gewählt: "Protestantismus" statt "Evangelische Kirche". Bei unseren Forschungen haben wir aber schnell gemerkt, dass an dieser These etwas nicht stimmt. Denn wir haben viele Menschen gefunden, die sich bewusst als Protestanten, oft auch als protestantische Laien in ethische Debatten eingebracht haben. Aber wenn man genauer hinschaut, dann sitzen diese Menschen im Kirchenvorstand oder haben ein synodales Mandat. Sie sind also viel tiefer in kirchliche Strukturen eingebunden als wir dachten oder sie vorgaben.
Aus dieser Beobachtung ist eines der zentralen Ergebnisse der Forschergruppe entstanden: Im Protestantismus müssen immer drei Dimensionen zusammenkommen: Eine individuelle Frömmigkeit, eine wie auch immer geartete Einbettung in kirchliche institutionelle Strukturen und öffentliche Wirksamkeit. Nur wenn diese drei Dimensionen gegeben sind, dann kann man auch von Protestantismus sprechen. Zugleich unterscheidet das den Protestantismus auch vom Katholizismus, bei dem das Element des Individuellen eine geringere Rolle spielt. Und das hebt den Protestantismus ab von all denjenigen Ideen, die den Glauben zur Privatsache erklären möchten. Das Protestantische ist immer auch politisch. Aus unserer Studie ist ein ziemlich umfangreiches Personenregister des Protestantismus nach 1945 entstanden, das wir in einem Wiki erfasst und publiziert haben.
Eine interessante Revision ergab sich auch im Blick auf die dominierende Geschichte, die vom deutschen Nachkriegsprotestantismus erzählt wird. Eigentlich, so heißt es da, hätten die konservativen Kräfte die Oberhand behalten und nur schwer den Weg in die liberale Demokratie gefunden – offiziell erst in der EKD-Denkschrift "Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie" von 1985. Darüber hinaus habe dieser "landeskirchliche" Protestantismus diejenigen Kräfte an den Rand gedrängt, die in der Tradition der Bekennenden Kirche einen Neuaufbruch gefordert hätten.
Und schließlich sei der bruderrätliche Protestantismus mit seinem moralischen Rigorismus eben nicht kompatibel mit einer pluralen Demokratie gewesen. Doch diese Erzählung ist unzutreffend. Zum einen gingen vom linken Flügel, vom bruderrätlichen Protestantismus in der Tradition der Bekennenden Kirche entscheidende Impulse aus. Vor allem aber übt der Protestantismus gerade durch das Neben- und Gegeneinander der unterschiedlichen Lager intern das ein, was gesamtgesellschaftlich in einer pluralen Demokratie notwendig ist: Die Anerkennung der Anderen und die Notwendigkeit zur Kompromissfindung.
Dies vor Augen, sieht man auch die Defizite in der Gegenwart. Wir haben, wie bereits angesprochen, zu wenig positionellen Pluralismus in der evangelischen Kirche. In der Leitungsebene wird der bürgerlich-konservative Flügel des Christentums zu wenig repräsentiert. Und als Kirche sind wir eben nicht mehr sicher ob wir zur Bewegung werden wollen, die nur Gleichgesinnte versammelt, oder ob wir weiter Volkskirche sein möchten, die verschiedene Positionen integrieren kann?
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