Glaubt man der geistigen Elite unseres Landes, in diesem Fall vertreten durch Ex-Vizekanzler Sigmar Gabriel, dann steht der Untergang des Abendlandes mal wieder kurz bevor. "Als Kind habe ich Karl Mays Bücher geliebt, besonders Winnetou", schreibt Gabriel auf Twitter.

Zum Rassisten habe ihn das nicht gemacht, schiebt er trotzig nach. "Und deshalb bleibt Winnetou im Bücherregal für meine Kinder. Und den Film schauen wir uns auch an."

Warum der ehemalige Umwelt-, Wirtschafts- und Außenminister sich genötigt fühlt, ein fast 150 Jahre altes Abenteuerbuch derart vehement zu verteidigen?

Verbot von "Winnetou" drohte nie

Das ist in der Tat eine interessante Frage, denn zu einem Verbot des Karl-May-Buchs hatte niemand aufgerufen. Vielmehr hatte sich der Ravensburger Verlag nach Rassismus-Kritik entschieden, neue Bücher zum ebenfalls neuen Kinderfilm "Der junge Häuptling Winnetou" wieder vom Markt zu nehmen. Diese neuen Bücher hatten den May-Stoff lediglich aufgegriffen. Sie stammen nicht von May. 

Nuancen gehen im Shitstorm unter

Doch der Shitstorm auf Twitter war bereits heiß gelaufen, und da interessieren solche Nuancen natürlich längst nicht mehr. Aus dem freiwilligen Rückzug des Verlags, den ohne eine reißerische Meldung eines großen Boulevard-Blatts vermutlich niemand etwas mitbekommen hätte, wurde da direkt woke Cancel Culture, und, wo man schon dabei war, eine Bücherverbrennung. Genau, wie damals bei den Nationalsozialisten.

Nun ist schon letztere Relativierung von Nazi-Verbrechen gelinde gesagt geschichtsvergessen, deutlich gesagt: eine Frechheit. Doch auch viele, die überhaupt nicht im Verdacht solcher revisionistischer Vergleiche stehen, wähnen sich tatsächlich in einem Kulturkampf, bei dem es darum geht, ein veraltetes Abenteuerbuch gegen Zensur zu verteidigen. 

Ergänzung: Eine sehr ausführliche Datenanalyse zeigt, dass es sich um eine künstlich erzeugte Scheindebatte handelt.

"Winnetou" zeichnet naives Bild vom "edlen Wilden"

Nur ist das absolut nicht der Fall. Es ging gar nicht um die Originalbücher von Karl May. Diese sind, wie viele andere Werke der europäischen Literaturgeschichte, zwar durchaus problematisch. "Winnetou" zeichnet ein naives Bild vom "edlen Wilden", der durch seine Freundschaft mit einem weißen Herrenmensch, Old Shatterhand, noch edler wird (kurz vor seinem Tod sogar Christ).

May stellt sich zwar in seinen Geschichten vermeintlich an die Seite der Indigenen (die er, wie damals üblich, "Indianer" nennt). Doch in seinen Schilderungen zeigt sich immer wieder der koloniale Blick: Der vermeintliche Gegensatz 'Vernunftbegabte, überlegene Weiße vs. emotionale, unterentwickelte Indigene' wurde als Rechtfertigung für schlimmste Menschenrechtsverletzungen im Namen eines angeblichen Fortschritts herangezogen – und bis heute ist dieses rassistische Hirngespinst nicht wirklich aus den Köpfen verschwunden.

Warum ein Verbot nichts nützt

Wäre es also besser, die Panikmache gewisser Kreise wahr werden zu lassen – und Winnetou einfach zu verbieten? Nein. Denn wie gesagt, problematische und aus heutiger Sicht überholte Sichtweisen transportieren auch sehr viele andere berühmte Werke. Denken wir nur an Shakespeares "Kaufmann von Venedig", an "Onkel Toms Hütte" von Stowe oder auch "Robinson Crusoe" von Defoe. Gemeinsam ist allen Werken, dass die Autor*innen sie in bester Absicht schrieben – und dabei dennoch Stereotypen und Klischees reproduzierten.

Nein, "Winnetou" zu lesen, macht aus einem noch keine*n Rassist*in, um das Argument von Gabriel aufzugreifen. So wie der "Kaufmann von Venedig" keinen Antisemiten aus den Zuschauern macht. Die Werke zu ächten oder gar zu verbieten, würde nicht viel helfen. Es wären reine Symbolhandlungen. Entscheidend ist es, die Denkmuster dahinter (Rassismus, Antisemitismus, Kolonialismus) zu erkennen, sichtbar zu machen und zu ächten. 

Aufklärung bitte

Was wirklich hilft und dringend angebracht wäre: Eine selbstkritische, ehrliche Auseinandersetzung mit den Kolonialverbrechen und vor allem der ideologischen Grundlage, auf der diese geschehen sind. Diese ideologische Grundlage findet auch in "Winnetou" unbewusst Ausdruck, aber eben längst nicht nur da.

Ein*e wirklich aufgeklärte*r Europäer*in kann die vielen kolonialen Denkmuster erkennen und daher auch völlig gefahrlos "Winnetou" oder "Durch wilde Kurdistan" lesen. Ob er es dann noch möchte, ist eine andere Frage.