Der 9. November ist für mich jedes Jahr ein ganz besonderes Datum. Auch 2025, vielleicht dieses Jahr noch mehr als sonst. Vielleicht, weil man das Gefühl hat: Es ist Zeit, mal wieder laut zu sagen, was das alles bedeutet hat.
Ich denke an den Morgen des 10. November 1989. Ich war 14. Meine Mama stand am Frühstückstisch und sagte diesen einen Satz, den ich nie vergessen werde: "Die Grenzen sind offen." Ich wusste erst gar nicht, was das heißen soll. Aber irgendwas war anders an diesem Tag. In der Stimme meiner Mutter lag etwas, das ich ie vergessen werde. Auch in der Schule, damals 8. Klasse im Frankenwald Gymnasium Kronach, war nicht an normale Unterricht zu denken.
Ich bin an der Grenze aufgewachsen – im Landkreis Kronach. Das war nichts Besonderes, das war Alltag. Straßen, die im Nichts endeten. Ein Zaun, der durch Dörfer ging. Der Interzonenzug bei Ludwigstadt, der immer ein Stück weit in dieses andere, verbotene Land fuhr. Wir wussten alle, da drüben ist auch Deutschland – aber ein anderes. Ein Land, das man nur in den Nachrichten sah, hinter einer Mauer aus Beton und Stacheldraht.
Und dann war sie plötzlich weg. Diese Grenze, die für mich Kindheit bedeutete.
Erste Schritte in der neuen Freiheit
Ich erinnere mich, wie wir am nächsten Tag Fußball gespielt haben – FC Unterrodach gegen irgendwen, das war egal. Der Platz lag direkt an der B173, der Straße nach Hof. Und da fuhren sie vorbei, hunderte, tausende Trabbis. Es roch nach Zweitaktbenzin, nach Abenteuer, nach etwas nie gekannten. Wir schauten ungläubig auf diese kleinen bunten Autos.
Ganz Kronach war voll mit DDR-Bürgern. Die Menschen standen auf den Straßen, winkten, lachten, weinten.
Ich war einer der ersten, der rüberfuhr, als es möglich war. Zusammen mit meinem Bruder Robert und meinem Papa, die leider beide schon gestorben sind. Sonneberg, Saalfeld – diese Orte, die vorher so unerreichbar waren, lagen plötzlich offen da. Wir bekamen Limo, Bier, Bratwurst. Überall lächelten Menschen, winkten, schenkten einem das Gefühl, Teil von etwas Großem zu sein. Es war magisch. Und ja – es war Chaos. Aber ein schönes Chaos. Das Chaos der Freiheit.
Gefahr der neuen Grenzen
Und heute?
Heute höre ich wieder Worte, die ich nie mehr hören wollte: Ossis, Wessis, die da drüben, die da oben.
Heute wird wieder gegeneinander geredet, statt miteinander. Heute reden Leute davon, dass es "früher besser war", dass die "Wessis uns übernommen haben", dass "die Ossis faul sind". So ein Quatsch! Ich kann’s nicht mehr hören.
Ich bin wütend.
Wütend, weil wir dieses Geschenk, das wir damals bekommen haben – dieses Wunder! – mit Füßen treten. Weil wir vergessen haben, was es heißt, in einem geteilten Land aufzuwachsen. Weil wir glauben, Einheit wäre selbstverständlich.
Dankbarkeit und Verantwortung
Ich bin dankbar.
Dankbar, dass ich ein Leben führen darf, das ohne die Wiedervereinigung nicht möglich wäre. Ich habe eine wundervolle Frau aus Thüringen. Vier Kinder. Eine Familie, die es in einem geteilten Land nie gegeben hätte.
Und ich bin wütend, weil ich merke, wie leichtfertig wir dieses "eine Land" wieder aufs Spiel setzen.
Ich sehe Menschen, die sich in ihre alten Denkmuster zurückziehen. Die lieber Grenzen im Kopf aufbauen, als Brücken im Herzen. Die glauben, man könne die Welt ordnen, indem man sie teilt.
Nein, kann man nicht.
Ich habe als Kind gesehen, wohin das führt. Ich habe Zäune gesehen, die sich durch Landschaften fraßen, habe erlebt, wie man den Himmel teilen wollte. Ich weiß, wie sich das anfühlt, wenn eine Grenze dein Leben bestimmt. Und ich weiß, wie sich das anfühlt, wenn sie fällt.
Erinnerung an Verantwortung und Freiheit
Wenn ich heute nach Sonneberg fahre, dann denke ich nicht an die DDR. Ich denke an Menschen. Freunde. Familie. Und daran, dass Freiheit nichts ist, was einfach da ist – sie ist ein Geschenk. Aber eins, das man pflegen muss.
Stattdessen höre ich: "Die da drüben kriegen alles." Oder: "Wir müssen unsere Identität schützen."
Ehrlich? Ich könnte kotzen. Wovor denn bitte?
Vor Begegnung? Vor Vielfalt? Vor der Tatsache, dass jemand aus Thüringen, Bayern oder Sachsen-Anhalt vielleicht anders denkt – aber trotzdem dazugehört?
Ich bin 50 Jahre alt. Ich habe erlebt, wie es war, in einem Land mit Mauern zu leben. Ich habe erlebt, wie es ist, wenn die Mauern fallen. Und jetzt erlebe ich, wie sie wieder wachsen – nur diesmal in Köpfen und Herzen.
Das macht mich traurig. Und wütend.
Denke ich heute an den 9. November
Wenn ich heute an den 9. November denke, dann nicht nur an die Nacht, in der die Mauer fiel. Sondern auch an die, in der sie brannte. 1938.
Der 9. November ist ein Datum, das uns alles sagt, was man über Deutschland wissen muss: Hoffnung, Wahnsinn, Schuld, Befreiung.
Es ist ein Tag, an dem man sich entscheiden muss, auf welcher Seite man steht.
Ich stehe auf der Seite derer, die keine Mauern mehr wollen. Weder aus Beton noch aus Meinung. Ich bin kein Ossi, kein Wessi. Ich bin ein Kind dieser Einheit.
Ich bin einer, der weiß, was Freiheit bedeutet – und was sie kostet. Und ich will, dass meine Kinder das auch wissen. Dass sie nie vergessen, dass Freiheit nicht vom Himmel fällt, sondern erkämpft, errungen, bewahrt wird.
Ich will, dass sie wissen, dass man aufhören muss, sich gegenseitig zu beneiden, zu misstrauen, zu verachten.
Wir haben ein Land. Eins. Und das ist nicht perfekt – aber es ist frei. Und das ist mehr, als viele Menschen auf dieser Welt je hatten.
Also ja, ich denke an den 9. November 2025. Und an den Morgen des 10. November 1989. Als meine Mutter am Frühstückstisch stand und sagte: "Die Grenzen sind offen."
Weil das damals der schönste Satz meines bisherigen Lebens war und weil ich Angst habe, dass wir vergessen, was er bedeutet.