34 Prozent der Bundesbürger nehme religiöse Vielfalt in Deutschland als Bedrohung wahr, heißt es im Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung. Woran liegt das Ihrer Einschätzung nach?

Mirjam Elsel: Interessant wird es ja immer dann, wenn man sich Statistiken genauer anschaut. Die 34 Prozent beziehen sich auf den Durchschnittswert. Religiöse Vielfalt wird vor allem von Menschen, die sich keiner Religionszugehörigkeit zuordnen oder die sich selber eine geringe religiöse Identität zuschreiben, als Bedrohung wahrgenommen. Bei dieser Personengruppe dürfte es sich um eine ablehnende Haltung gegenüber Religionen im Allgemeinen handeln. Religionen werden dann als Gefahr und nicht als Ressource wahrgenommen. Das führt zu verschärften Aushandlungsprozessen, wenn es um Fragen der Religionsfreiheit und der religiösen Neutralität des Staates geht. Die Kirchen spüren das gerade besonders in vielen Debatten, wenn ihre gesellschaftliche Bedeutung und Sonderstellung kritisch hinterfragt wird.

"Am wenigsten bedrohlich nehmen Musliminnen und Muslime religiöse Pluralität wahr."

Sind bestimmte religiöse Gemeinschaften mehr betroffen als andere?

Bei der Differenzierung nach Religionsgemeinschaften zeigt sich, dass nicht die Zugehörigkeit allein entscheidend für die Bewertung ist, sondern auch die individuelle Religiosität. Personen mit stark ausgeprägter religiöser Identität sehen religiöse Vielfalt öfter als Bereicherung, 42 Prozent. Das heißt, Menschen, die sich in ihrer eigenen Religion gut verortet fühlen, haben weniger Angst im Zusammenleben mit Menschen anderer Religionen. Ältere nehmen religiöse Vielfalt eher als Bedrohung wahr. Sie tun sich allgemein schwerer, Veränderungsprozesse zu akzeptieren.

Am wenigsten bedrohlich nehmen Musliminnen und Muslime religiöse Pluralität wahr. Die Untersuchung bestätigt auch noch mal, dass je weniger Kontakte und Wissen Menschen mit Personen anderer Religionen haben, sie desto eher religiöse Pluralität als Bedrohung sehen. Außerdem lassen andere Untersuchungen darauf schließen, dass dann gleichzeitig andere Pluralitätsfaktoren, wie Geschlechterrollen, Kultur ect. als bedrohlich empfunden werden. Dahinter steht immer auch die Angst, etwas zu verlieren, abgehängt oder nicht wahrgenommen zu werden. Ich glaube, dass Vertrauen und Vertrautheit hier eine ganz große Rolle spielen. In einer Gesellschaft, die sich immer mehr separiert, und Informationsaustausch in Social Media Blasen gepflegt werden, gibt es wenig echte Kontakte und Beziehungen zu Menschen, die anders leben, einen anderen Glauben oder Herkunft haben, als man selbst.

Mirjam Elsel
Pfarrerin Mirjam Elsel ist die neue Beauftragte der bayerischen Landeskirche für interreligiösen Dialog.

Der Monitor stellt auch fest, dass die religiöse Toleranz der Deutschen leicht abnimmt. Ein Trend, der sich weiter fortsetzen könnte?

Zur religiösen Toleranz werden in der Untersuchung drei Fragen gestellt. Der Freiheit die Religion zu wechseln stimmen 93 Prozent der Befragten zu. Das ist immer noch ein sehr hoher Wert. Die Offenheit gegenüber anderen Religionen hat in den letzten 10 Jahren jedoch um 10 Prozent abgenommen. Allerdings sagen immer noch 80 Prozent der Befragten von sich, gegenüber anderen Religionen offen zu sein. Dass jede Religion einen wahren Kern hat, dem stimmen 59 Prozent zu. Wenn sich die Gesellschaft insgesamt weiter polarisiert, muss davon ausgegangen werden, dass sich der Trend weiter fortsetzt.

Die Untersuchung zeigt auch, dass religiöses Wissen sowohl in der eigenen Religion, wie auch in Bezug auf andere Religionen abnimmt. Am wenigsten Wissen über Religionen haben Menschen ohne Religionszugehörigkeit. Erschreckend finde ich den niedrigen Wert im selbsteingeschätzten Wissen in Bezug auf das Judentum. Nur 16 Prozent geben an viel oder sehr viel über das Judentum zu wissen, im Vergleich dazu 27 Prozent über den Islam und 60 Prozent über das Christentum. Das bedeutet, dass die Bemühungen Wissen und Kenntnisse über jüdisches Leben zu vermitteln noch deutlich ausgebaut werden müssen. Es kann ein Zusammenhang zwischen religiösem Wissen und religiöser Sozialisation angenommen werden. Nachdem, wie aus der Studie zu schließen ist, sich dieses positiv auf die Toleranz gegenüber anderen Religionen auswirkt, wird das den Trend ebenfalls verstetigen.

"Es gibt weder das Christentum, noch den Islam oder das Judentum."

Was könnte dagegen helfen?

Was wir brauchen sind Begegnungsräume und religiöse Bildung. Es muss normal sein, dass Menschen unterschiedlicher Religionen zusammenleben und dafür braucht es auch sichtbare Ausdrucksformen. Das heißt, die Religionsgemeinschaften bauchen untereinander vertrauensvolle Kommunikationsstrukturen. Deswegen sind interreligiöse Beziehungen, multireligiöse Gebete und Schulfeiern so wichtig. Dabei geht es darum, Vielfalt sichtbar zu machen und zu zeigen, wir können aus unseren je eigenen religiösen Traditionen heraus miteinander Verantwortung tragen und unsere je eigenen spirituellen Ressourcen einbringen.

Vor allem erscheint es mir wichtig, Pluralität innerhalb der einzelnen Religionsgemeinschaften wahrzunehmen. Es gibt weder das Christentum, noch den Islam oder das Judentum. Unterschiede zeigen sich häufig nicht zwischen den Religionsgemeinschaften, sondern im Umgang mit heiligen Texten und woher ich religiöses Wissen beziehe. Pädagog*innen in Schule, Kindergarten und Erwachsenenbildung (und zwar nicht nur Religionslehrkräfte), aber auch Mitarbeitende in Behörden, in der Polizei oder auch in der Pflege müssen darin unterstützt werden eine religionssensible Haltung einzunehmen. Das heißt, um den Wert und die identitäts- und kulturbildende Bedeutung von Religionen zu wissen, sich mit der eigenen religiösen Biographie auseinander zu setzen, religiös sprachfähig zu sein und über ein Grundwissen der in Deutschland vertretenen Religionen zu verfügen.

Religiosität von Menschen nimmt weltweit, aber auch in Deutschland, eher zu, auch wenn sie immer weniger institutionell gefasst ist. Allerdings führt vermeintliches Wissen nicht automatisch zu größerer Akzeptanz. Stützt sich dieses Wissen, z. B. allein auf die mediale Berichterstattung, die sich ja vor allem auf Konfliktthemen bezieht, kann das zum Gegenteil führen. Hier geht es immer auch um die Qualität und Differenziertheit von Wissen. Gleiches gilt auch für die Begegnung. Nur weil jemand schon mal bei einem Fastenbrechen in einer Moschee teilgenommen hat, verändert sich noch nichts. Dazu gehören Wertschätzung, Anerkennung und Teilhabe. In der interreligiösen und –kulturellen Arbeit unserer Landeskirche versuchen wir diese Grundsätze in Fortbildungen und Angeboten zu stärken.

Der Monitor fasst zusammen, dass in einer pluralen Gesellschaft die Qualität des sozialen Miteinanders entscheidend von der Anerkennung – und nicht nur Duldung - dieser sichtbaren Vielfalt abhängt. Das betrifft politische Sprache genauso wie Fragen von Teilhabe und Chancengerechtigkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen.

"Die Menschen sind nicht weniger religiös, sie leben ihre Religiosität nur weniger in institutionellen Formen."

Der Bericht attestiert zudem eine Pluralisierung sowie Individualisierung des religiösen Bereichs. Muss das ein Problem sein?

Nicht unbedingt. Menschen fragen: Wie bin ich die geworden, die ich heute bin? Für was bin ich auf der Welt? Wonach richte ich mein Leben aus? Die Antworten sind nicht mehr durch ein Hineingeboren-Werden in eine Religion vorgegeben, sie verändern sich im Laufe eines Lebens. Religiöse Identität wird heute durch viele Faktoren geprägt. Ich mache die Erfahrung, dass viele Menschen über interreligiöse Begegnungen anfangen, sich mit ihren eigenen religiösen Wurzeln zu befassen. Bisher galt für den interreligiösen Dialog immer als Voraussetzung, in der eigenen Religion sprachfähig zu sein. Das verändert sich und damit müssen sich auch Konzepte verändern. Die Menschen sind nicht weniger religiös, sie leben ihre Religiosität nur weniger in institutionellen Formen. Das sagt erst mal nichts darüber aus, wie mit religiöser Pluralität umgegangen wird. Es stellt sich allerdings die Frage, welche Orte, religiöse Identität prägen und auch in der Lage sind Glaubenswissen und –erfahrung zu tradieren.

Wenn familiäre Strukturen hier keine große Rolle mehr spielen, wie es die aktuelle Kirchenmitgliedschaftsstudie nahe legt, gewinnt religiöse Bildung in der Schule, im Konfirmandenkurs oder in der Erwachsenenbildung an Bedeutung. Und zwar so, dass Menschen befähigt werden Glaubensaussagen und heilige Texte im Wahrnehmen der jeweiligen Kontextualität auf ihre Lebenswirklichkeit heute zu beziehen. Dafür braucht es einen institutionellen Rahmen und verlässliche Strukturen. Die beiden großen Kirchen haben solche Strukturen. Kleinere Religionsgemeinschaften verfügen jedoch nicht über die Möglichkeiten und Mittel solche bereitzustellen. Dabei wäre hier qualitative religiöse und interreligiöse Bildung genauso wichtig. Initiativen wie das neue Muslimische Bildungswerk in Bayern, das von verschiedenen muslimischen Akteuren getragen wird und mit Einrichtungen der evangelischen Erwachsenenbildung vor Ort kooperiert, brauchen finanziell abgesicherte Strukturen, um arbeiten zu können.

Ab wann wird es problematisch?

Zum Problem wird es, wenn Religionen aus dem öffentlichen Leben verdrängt werden. Das sehe ich jedoch in unserem Land derzeit, trotz des viel besprochenen Bedeutungsverlustes der Kirchen, nicht. Das Recht auf Religionsfreiheit bezieht bewusst auch die öffentliche Glaubensausübung mit ein. Und Glaube, zumindest im Judentum, Christentum und Islam hat auch eine politische Dimension. Wenn es um die Bewahrung der Schöpfung, Menschrechte und –würde, Fragen des Anfangs und Ende des Lebens, der sozialen Gerechtigkeit und Friedensethik geht, dann lassen sich diese nicht individuell lösen, sondern hier sind die Vertreter*innen der Religionsgemeinschaften gefragt religiöse Positionen in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen.

"In den 50ern kam es zu Familienzerwürfnissen, wenn ein Katholik eine Evangelische heiraten wollte."

Sollen wir uns die 1950er zurückwünschen, als noch 96 Prozent der Deutschen evangelisch oder katholisch waren?

In den 50ern kam es zu Familienzerwürfnissen, wenn ein Katholik eine Evangelische heiraten wollte. Und Vertriebene kämpften zu dieser Zeit auch in bayerischen Städten und Dörfern noch um Anerkennung. Fragen nach dem Umgang mit Diversität sind kein besonderes Kennzeichen unserer Zeit. Die Frage ist für mich, wie wir auf die Entwicklung der hohen Kirchenaustrittszahlen schauen. Bestimmen unseren Blick die zu erwartenden geringeren Kirchensteuereinnahmen, und in Folge die Stellenkürzungen, das Zusammenlegen von Gemeinden und die Aufgabe von Kirchen, oder fragen wir 'Was brauchen die Menschen?' jetzt. Der Bedarf an Religion gewinnt in Zeiten der Komplexität und Krisenanfälligkeit der Gesellschaft an Bedeutung.

"Religionen und Religiosität differenziert wahrnehmen."

Was sind die wichtigsten Punkte, um in einer multireligiösen, teilweise auch areligiösen Gesellschaft gut miteinander auszukommen?

Der Religionsmonitor gibt hier eine Reihe von Handlungsempfehlungen und setzt auf Bildung durch Wissen und Begegnung. Das kann ich nur unterstreichen und ist auch nicht unbedingt neu. Für mich fängt das mit dem Einüben einer religionssensiblen Haltung an, die befähigt Religionen und Religiosität differenziert wahrzunehmen.

Ich möchte das einem konkreten Beispiel zeigen. Letzte Woche hatte ich die Gelegenheit die Künstlerin Elena Kaufmann bei ihrer Arbeit mit Jugendlichen zu erleben. Sie hat in ihrem Kunstprojekt "Der weiße Faden" 20 Frauen unterschiedlicher Religionen porträtiert. Den Frauen ist auf den Fotos nicht anzusehen, welcher Religionen sie angehören. In der öffentlichen Installation hängen auch Texte mit den persönlichen Glaubensgeschichten der Frauen. Zum Workshop war eine 10. Klasse eines Gymnasiums gekommen. Gefragt nach Erfahrungen von Fremdheit und Andressein, kamen kaum Antworten. Das änderte sich, als zufällig eine andere Klasse vorbei kam, in der einige Mädchen Kopftuch trugen und neugierig anfingen, die Geschichten der Frauen zu lesen.

Die Künstlerin fragte sie direkt. Und erst schüchtern erzählte ein Mädchen dann, wie verletzend es für sie sei, wenn Leute sie nur aufgrund ihres Kopftuches abschätzend behandelten. "Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht." so die Reaktion einer Gymnasiastin. Und auf einmal viel ihr ein Mitschüler, dessen Eltern aus Afghanistan kamen, ins Wort: "Echt nicht? Das ist ein riesen Problem. Meine Mutter hat deswegen ihr Kopftuch abgelegt, weil sie es nicht mehr ausgehalten hat." Auf einmal kamen auch in der Gymnasialklasse ganz unterschiedliche Erfahrungen zur Sprache. Am Ende sagte eine Schülerin: "Ich dachte immer, ich kenne meine Klasse, aber ich habe heute so viel gelernt von meinen Mitschülern. Ich wusste gar nicht, dass unsere Erfahrungen so unterschiedlich sein können."

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