Die beiden großen Kirchen in Deutschland haben kürzlich den "3. Ökumenischen Bericht zur Religionsfreiheit weltweit 2023" vorgestellt. Religionsfreiheit sei ein Recht für alle, und nicht ein Privileg für eine bestimmte Gemeinschaft. Wie die ersten beiden Berichte von 2013 und 2017 wurde der neue 180-seitige Text von der katholischen Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vorgelegt.

Mirjam Elsel ist Beauftragte der bayerischen Landeskirche für interreligiösen Dialog. Im Sonntagsblatt-Gespräch erklärt sie, warum Christenverfolgung sich nicht einfach isoliert betrachten lässt, wie die Religionsfreiheit mit anderen Grundrechten zusammenhängt und warum auch in Deutschland Einschränkungen der religiösen Freiheiten zu beklagen sind. 

"AfD, Pegida und die Querdenkerbewegung berufen sich auf die Religions- und Weltanschauungsfreiheit, um ihrerseits Menschen aufgrund ihrer Religion abzuwerten, auszugrenzen und zu bedrohen."

EKD und katholische Kirche legen Wert darauf, sich von einer isolierten Betrachtung von Christenverfolgung abzugrenzen. Ist das aus Ihrer Sicht die richtige Entscheidung?

Mirjam Elsel: Christenverfolgung wird wie auch schon in den ersten beiden Berichten 2013 und 2017 bewusst vermieden. Der Bericht weist sehr deutlich darauf hin, inwiefern rechtspopulistische Kreise diesen Begriff in Zusammenhang mit der Rede von "Massenmigration" oder "Islamisierung des Abendlandes" bringen und damit bewusst Ressentiments gegenüber Muslim*innen schüren. AfD, Pegida und die Querdenkerbewegung berufen sich auf die Religions- und Weltanschauungsfreiheit, um ihrerseits Menschen aufgrund ihrer Religion abzuwerten, auszugrenzen und zu bedrohen.

Was setzt der Bericht dem entgegen? 

Es geht in dem Bericht um Religions- und Weltanschauungsfreiheit im nationalen wie im globalen Kontext. Grundlage dafür bildet die Formulierung des Artikel 18 in der Allgemeinen Erklärung der Menschrechte von 1948. Heiner Bielefeld, Mitautor des Berichts und einer der profiliertesten Menschenrechtsexperten in unserem Land, bezeichnet die Religions- und Weltanschauungsfreiheit als "hochkomplexes Grundrecht".

Und genau dieser Komplexität versucht der Bericht gerecht zu werden, in dem er aktuelle Diskurse wie Migration, Gendergerechtigkeit, Zivilgesellschaft, Sicherheit, Rechtspopulismus und indigene Völker unter der Fragestellung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit beleuchtet und exemplarisch die Situation in unterschiedlichen Ländern der Welt analysiert. Dass dabei auch Länder wie Dänemark oder Deutschland untersucht werden, mag auf den ersten Blick verwundern. Doch die kontextuelle Abwägung der Religionsfreiheit in Bezug auf andere Grundrechte ist auch hier eine große Herausforderung. Zum Beispiel gibt der Bericht eine sehr differenzierte Betrachtung zu Konflikten zwischen Religionsfreiheit und Anliegen der Gendergerechtigkeit und scheut sich nicht kritisch innerkirchliche Spannungen aufzuzeigen.

"Eine Konzentration auf Christenverfolgung würde der Vielschichtigkeit, aber auch der Relevanz des Themas nicht gerecht."

Manche mögen da sagen: Geht es überhaupt noch um Religionsfreiheit?

Religionsfreiheit kann nie isoliert betrachtet werden. Wo sie in Gefahr ist, sind meistens auch weitere Grundrechte, wie z. B. Meinungs-, Versammlung-, Vereinigungs-, Pressefreiheit betroffen. Die Frage nach Religionsfreiheit bezieht neben staatlichen Voraussetzungen auch zivilgesellschaftliche Bedingung ein. Auch sind in der Regel, vor allem in totalitären Staaten, nicht nur eine einzelne Religionsgemeinschaften von Diskriminierung oder Verfolgung betroffen. Dazu kommt, dass religiöse Minderheiten oft gleichzeitig ethnischen, sprachlichen oder sozialen Minderheiten angehören.

Eine Konzentration auf Christenverfolgung würde der Vielschichtigkeit, aber auch der Relevanz des Themas nicht gerecht. So ist es wenig hilfreich, das Christentum alleine zu betrachten. Der Bericht stellt dementsprechend fest: "Es gibt grundrechtlich keine andere Freiheit für Christen als für Juden, Muslime, Hindus, Buddhisten, um nur einige zu nennen, oder auch für Agnostiker und Atheisten." Das heißt jedoch auch: "Es gibt keinen Anspruch von der öffentlichen Freiheitsausübung anderer und damit von der Begegnung mit Symbolen, Worten und Gesten von Religion überhaupt verschont zu werden." Womit für säkulare Gesellschaften ein weiteres Konfliktthema angesprochen wird.

Überzeugt Sie diese Herangehensweise? 

Es ist eine Stärke des Berichts, sich der Komplexität von Religions- und Weltanschauungsfreiheit zu stellen und auch in ökumenischer Verbundenheit kritisch den eigenen Kontext zu reflektieren.

"Religionsbezogene Menschenfeindlichkeit betrifft in unserem Land vor allem Menschen, denen zugeschrieben wird jüdisch oder muslimisch zu sein."

Gleichzeitig hebt der Bericht hervor, dass die Religionsfreiheit in Deutschland ebenfalls bedroht ist. Zum einen durch Rechtsextreme, die christliche, jüdische und muslimische Menschen bedrohten. Wie schätzen Sie das ein?

Grundsätzlich bescheinigt der Bericht für Deutschland einen hohen verfassungsrechtlichen Schutz der Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Unsere freiheitliche demokratische Grundordnung garantiert Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Das heißt allerding nicht, dass alles damit gut ist.

Religionsbezogene Menschenfeindlichkeit betrifft in unserem Land vor allem Menschen, denen zugeschrieben wird jüdisch oder muslimisch zu sein – und zwar völlig unabhängig davon, wie sie sich selber sehen. Die Anzahl antisemitischer Straftaten war im Jahr 2020 mit 2.351 gemeldeten Anzeigen über doppelt so hoch wie islamfeindliche und fast zwanzig mal so hoch wie christenfeindliche Straftaten.

"Im Prinzip muss ich immer und überall damit rechnen, aufgrund meines Kopftuchs dumm angesprochen, als unterdrückte Frau klassifiziert oder des Islamismus verdächtigt zu werden", so die Erfahrung einer muslimischen Freundin. Dabei ist die vermeintliche Religion ein Diskriminierungsmerkmal unter anderen, wie etwa Geschlecht, Behinderung oder Ethnie. In der Anti-Diskriminierungsarbeit hat sich mittlerweile durchgesetzt, von "Intersektionalität" zu sprechen.

Diese betrifft alle Lebensbereichen von der Miete einer Wohnung, der Frage nach Bildungschancen, bei der Polizei oder in Behörden. Antisemitischer und antimuslimischer Rassismus sind in unserer Gesellschaft ein Problem. Dafür braucht es Melde-, Beratungs- und Dokumentationsstellen für Betroffene. Bayern hat in der Einrichtung von Anti-Diskriminierungsstellen, vor allem was Vorfälle antimuslimischen Rassismus betrifft, durchaus noch Nachholbedarf.

Das betrifft also nicht nur Rechtsextremismus?

Die Bedrohung durch Rechtsextreme hat noch mal eine ganz andere Dimension. Rechtsextreme sind gewaltbereit und rufen auch zu Gewalt gegenüber jüdischen und muslimischen Menschen und Einrichtungen auf. Spätestens seit dem Angriff auf die Synagoge in Halle müssen alle wissen, dass die Gefahr gewaltsamer Übergriffe real ist. Die Angst, selber betroffen sein zu können, schränkt vor allem jüdische und muslimische Menschen in ihrem Lebensalltag ein. Das bedeutet die Arbeit gegen Rechtsextremismus muss auf Seiten des Staates und auch in den Kirchen zu einer Kernaufgabe gehören. Betroffene müssen sich sicher sein können, dass der Staat alles dafür tut, sie wirkungsvoll zu schützen. Die hohen Zustimmungsraten der AfD sind in diesem Zusammenhang besorgniserregend und dürfen nicht noch durch Übernahme von populistischen Reden durch demokratische Parteien normalisiert werden.

Des Weiteren sieht der Bericht eine Gefahr für gläubige Menschen in Deutschland durch die Säkularisierung. Verwiesen wird etwa auf ein Urteil von 2012, dass die Beschneidung von Knaben als Körperverletzung wertete. Wie ist Ihre Position zu dieser Einschätzung?

Es lassen sich zwei extreme Positionen beobachten. Die einen sehen in der Religionsfreiheit das zentrale Grundrecht und versuchen damit ihre Interessen und Aktivitäten auch gegen andere Grundrechte zu vertreten. Säkulare Positionen dagegen sehen Religion als reine Privatsache an, die im "öffentlichen (Diskurs-) Raum eher Probleme schaffe und angesichts religiös-weltanschaulicher Pluralisierung mehr zur Stärkung zentripedaler Kräfte als zu gesellschaftlichen Identitätsbildung beitrage", wie es im Bericht auf Seite 19 heißt.

Ein eigenes Recht zur Religionsfreiheit wird damit überflüssig. Die Diskussion um die Bescheidung von Jungen hat vor allem deutlich gemacht, wie wichtig das Recht auf Religionsfreiheit in Abwägung mit anderen Grundrechten ist. Der Ursprung der Grundrechte, gerade der Religionsfreiheit liegt in ihrem abwehrrechtlichen Charakter. "Der Staat soll gehindert werden, die individuelle Freiheitsentscheidung des Einzelnen zu bewerte und mit positiven oder negativen Rechtsfolgen zu verknüpfen", heißt es auf Seite 21. Hier galt es abzuwägen, ob eine jahrtausendalte jüdische Tradition, die identitätsstiftenden Charakter für das Judentum auf der ganzen Welt besitzt, in Deutschland verboten werden kann. Es war wichtig, dass der Gesetzgeber im BGB dann eine ausdrückliche Regelung gefunden hat, wonach die Personensorge auch die Entscheidung über die Durchführung einer Beschneidung umfasst, wenn diese nach den Regeln ärztlicher Kunst durch geeignete Personen durchgeführt wird. Das gilt auch für die Beschneidung von muslimischen Jungen.

"Dass Religionen an Bedeutung verlieren, stimmt so nicht."

Was ist damit über die Zukunft unserer Gesellschaft und der Rolle der Religion in ihr gesagt?

Der ehemalige Bundesverfassungsrichters Böckenförde hat das Zitat geprägt: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann". Wenn es um die Frage des Zusammenlebens in einer pluralen Gesellschaft geht und damit um die Werte, die uns verbinden, dann kann diese nicht der Staat aus sich heraus hervorbringen. Er kann jedoch Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass ein wirksamer Diskurs entsteht. Dabei spielen die Kirchen mit ihrer christlichen ethischen Prägung und Kompetenz nach wie vor eine wichtige Rolle.

Die Herausforderung in einer pluralen Gesellschaft ist es in diesen Diskursrahmen auch die weiteren Religionsgemeinschaften und Weltanschauungen einzubeziehen. Denn, dass Religionen an Bedeutung verlieren, stimmt so nicht. Der aktuelle Religionsmonitor der Bertelsmannstiftung stellt fest: "Religion ist in Europa auch in Deutschland keineswegs auf dem Rückzug. Vielmehr verändert sich die religiöse Landschaft tiefgreifend. (…) Das Maß an Religionsfreiheit in einem Land gilt nicht ohne Grund als Gradmesser für das friedliche Zusammenleben und den Zustand einer Demokratie."

"Ein öffentlich sichtbare religiöse Bekenntnis ist keine Zumutung und muss von der umgebenden Gesellschaft toleriert werden."

Zugleich betont der Bericht Religionsfreiheit als ein säkulares Recht, das sowohl positive wie negative Freiheit einschließe. Wie beurteilen Sie es, dass die Kirchen auch für die Rechte der "Ungläubigen" kämpfen?

Den Begriff der "Ungläubigen" verwenden die Kirchen grundsätzlich nicht mehr. In interreligiösen Konzeptionen der evangelischen Landeskirchen und ebenso der Katholischen Kirche wird grundsätzlich die Religions- und Weltanschauungsfreiheit eines jeden Menschen betont. Die bedingungslose Würde jedes Einzelnen ergibt sich aus der Ebenbildlichkeit des Menschen. Gottes Liebe gilt ausnahmslos für alle Menschen, egal welcher Religion, Hautfarbe, sexuellen Orientierung oder Nationalität sie angehören. Religionsfreiheit schließt auch ein, sich dafür zu entscheiden ohne Religion zu leben. Das Grundrecht beinhaltet auch das Recht die eigene Glaubensüberzeugung öffentlich zu leben. Das bedeute jedoch auch, ein öffentlich sichtbare religiöse Bekenntnis ist keine Zumutung und muss von der umgebenden Gesellschaft toleriert werden.

"Unterdrückung von Minderheiten und ihren Religionen gehören in viel zu vielen Ländern zum Konzept der Machterhaltung bestimmter Herrschaftsgruppen."

Was war für Sie die überraschendste Erkenntnis aus dem Bericht?

Überraschend waren die Ergebnisse für meinen Arbeitsbereich nicht. Eine multiperspektivische Sicht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist unabdingbar. Der Bericht hat für mich das Potiential einen wichtigen Beitrag für aktuelle Diskurse in Deutschland zu leisten. Wenn nur noch 50 Prozent der Menschen in unserem Land einer christlichen Kirche angehören, dann geht es vermehrt darum, zu erklären, warum wir gerade jetzt religiöses Wissen und Verortung eines Wertediskurses brauchen und zwar im Austausch mit allen Religionsgemeinschaften und Weltanschauungen in unserem Land. Das kann anstrengend, aber auch bereichernd sein.

Wichtig ist es auch, und das tut der Bericht sowohl in den Kapiteln zu den Querschnittsthemen als auch in den Länderberichten, Fragen nach Religionsfreiheit unter einem globalen Blickwinkel zu betrachten. Unterdrückung von Minderheiten und ihren Religionen gehören in viel zu vielen Ländern zum Konzept der Machterhaltung bestimmter Herrschaftsgruppen. Betroffenen, die z. B. als Geflüchtete nach Deutschland gekommen sind, hier eine Stimme und Öffentlichkeit zu verschaffen ist das, was wir hier tun können. Der Bericht erwähnt z. B. für China die Situation der muslimischen Minderheit der Uiguren in China. Wer einmal bei den Demonstrationen der Münchner Uiguren vor der chinesischen Botschaft teilgenommen hat, sieht in Gesichter, die vom Schmerz der Internierung, Zwangsarbeit und Sorge um Angehörige gezeichnet sind. Solche Kämpfe brauchen noch mehr Aufmerksamkeit.

Fehlt Ihnen in dem Bericht ein wichtiger Aspekt?

Leider fehlt dem Bericht ein Länderbeitrag zum Iran, das wäre für die Arbeit gerade mit der doch beachtlichen Zahl von iranischen Christen*innen in unsren Kirchen hilfreich. Ich vermute jedoch, dass die Datenlage hier derzeit nicht valide zu erstellen ist. Der Bericht legt großen Wert auf belastbare wissenschaftliche Recherchen und ist ein großer Gewinn für alle, die sich für Religions- und Weltanschauungsfreiheit einsetzen.

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