Die Nachricht vom brutalen Angriff der Hamas auf Israel hat uns alle schockiert. Wie reagiert die Bevölkerung in Israel am dritten Tag auf dieses unfassbare Geschehen? Wie erleben Sie die Menschen und ihre Reaktion? 

Moshe Zimmermann: Mit der Zeit sitzt der Schock immer tiefer. Die Menschen haben begriffen, was passiert ist. Sie bekommen immer mehr Informationen über die Ereignisse am Samstag. Deswegen ist der Schockeffekt umso gravierender. Die Leute stellen Fragen und versuchen gleichzeitig mit den Geschehnissen zurechtkommen und darauf zu reagieren.

Die meisten beschäftigt die Frage, was in und um Gaza herum mit der Bevölkerung passiert. Es wird versucht, einen Schulterschluss vorzutäuschen, um gemeinsam gegen die böse Hamas vorzugehen. Es wird jedoch nicht lange dauern, bis der Zwist, der die israelische Gesellschaft maßgeblich charakterisiert, wieder zum Vorschein kommt.                                 

Die kollektive Erniedrigung trifft Israel im Kern. Bedeutet dieser Angriff eine Re-Traumatisierung der israelischen Bevölkerung?

Dieser Angriff ist die schlimmste Katastrophe, wenn man ihn aus der zionistischen Bewegung heraus betrachtet. Die zionistische Bewegung ist entstanden, um für die Juden einen sicheren Ort auf der Welt zu schaffen.

Zum ersten Mal ist eine so große Zahl an Zivilisten in einem Terroranschlag umgebracht worden auf dem Territorium von Israel.

Der Zionismus, der Staat Israel, hat versagt.

Die Menschen realisieren das langsam, und werden es wahrscheinlich in den nächsten Wochen noch weiter tun.

Sie sprechen es bereits an. Zeichnen sich innenpolitischen Folgen ab? Ist die gegenwärtige Regierung handlungsfähig und hat sie noch den notwendigen Rückhalt in der Bevölkerung? 

Diese Regierung ist genauso handlungsfähig wie vorher. Es ist eine zerstrittene und rechtsorientierte Regierung, die nicht weiß, was die eigentlichen Ursachen des Angriffs sind. Die Regierung bekommt jetzt Unterstützung von außen. Die Repräsentanten der Opposition werden sich anschließen, um in dieser Zeit das Land zu retten.

Es ist jedoch absehbar, dass diese Regierung - die inkompetenteste Regierung in der Geschichte Israel – zusammenbrechen wird.

Sie hat ein Jahr lang gezeigt, dass sie die falschen Prioritäten setzt und für die Bevölkerung und ihre Interessen die schlimmste Regierung seit der Staatsgründung ist.

Viele teilen Ihre Sorge, dass Bodentruppen in den Gazastreifen einmarschieren. Seit heute Morgen mehren sich die Anzeichen für diese Großoffensive. Geiseln würden geopfert werden. Die Folgen für das israelische Volk wären dramatisch. Wie könnte eine Alternative aussehen? Was wäre aus ihrer Sicht jetzt geboten? Was sollte geschehen?

Die Alternative, von der ich ausgehe, ist selbstverständlich chancenlos. Die automatische Reaktion dieser Regierung ist es, draufzuhauen – oder, mit den Worten einiger Minister, "den Gazastreifen platt zu machen". Das wird die erste Reaktion sein, auch wenn es das Leben der Geiseln in Gaza kosten wird. Rache und Bestrafung der Palästinenser sind wichtiger als alles andere. Die Alternative zu diesem Vorgehen ist, sich mit der Unterstützung von anderen Staaten wie Amerika und Europa, um die Rettung der Geiseln zu sorgen.

Das ist deswegen so wichtig, weil die in Geiselhaft genommenen Zivilisten von Israel verraten worden sind. Israel war nicht in der Lage, diese Menschen zu beschützen. Die wichtigste Aufgabe des Staates ist, Zivilisten zu beschützen. Diesen Schutz hat es nicht gegeben, daher ist jetzt zentral, alles zu versuchen, um die schutzlosen Zivilisten wenigstens zu retten. Diese Überlegung ist jedoch völlig irrelevant. Die israelische Regierung denkt ganz anders.

Verstehe ich Sie richtig, dass Sie die Hoffnung auf eine Rettung der Geiseln zunehmend für unwahrscheinlich halten?

Es wird bestimmte Versuche geben, mithilfe des Militärs die verschleppten Geiseln zu befreien. Wir wissen aber aus der Vergangenheit, dass derartige Versuche besonders kompliziert sind. Viele Bemühungen blieben in der Vergangenheit erfolglos. Wir können nicht davon ausgehen, dass die Rettungsaktion jetzt erfolgreicher sein werden als in der Vergangenheit. Ich hoffe sehr, dass einige der Geiseln gerettet werden können.

Die Hoffnung, dass alle knapp 150 im Gaza Gebiet gefangen gehaltenen Geiseln befreit werden, ist leider eine Illusion.

Welche Erwartung haben Sie an die deutsche Bundesregierung? Haben Sie welche?

Ich hatte Erwartungen. Es war die Aufgabe der deutschen Regierung und von Europa, mehr zu tun in den letzten zehn Jahren, um die Verhandlungen zwischen Israel und der palästinensischen Autonomiebehörde auf den Weg zu bringen. Die israelische Taktik ist, die Friedensverhandlungen aufzuschieben, weil sie vor allem daran interessiert ist, die Siedlungen auszubauen.

Wenn man Frieden in dieser Region haben will, muss man eben über Frieden verhandeln. Wenn über Frieden nicht verhandelt wird, beginnt die Zeit der Terroristen. Die grausamen Hamas-Terroristen haben gezeigt, worauf die sich zehn Jahre lang vorbereitet haben. Der Angriff hätte vielleicht vereitelt werden können, wenn Israel während dieser Zeit Friedensverhandlungen geführt hätte. Das führt mich zu Ihrer Frage zurück.

Die deutsche Regierung und Europa haben in den letzten zehn Jahren weggeschaut und sind nun überrascht.

Deutschland hätte früher mehr tun können. Das ist ein Versagen auch der deutschen Regierung mit Frau Merkel beginnend und der Ampelregierung in ihrer Fortsetzung.

Was kann die deutsche Regierung jetzt aus Ihrer Sicht angemessenes tun?

Die Regierung muss jetzt Israel unterstützen – gemeint ist das "wahre" Israel, also die Menschen in Israel, nicht die israelische Regierung. Es ist wichtig, dass Deutschland auf der Seite der israelischen Bevölkerung steht. Deutschland muss sich dafür einsetzen, in Israel etwas in Bewegung zu bringen, und zwar nicht durch mehr Krieg und einer Intensivierung der Kriegshandlungen, sondern durch Friedensbemühungen oder einer Regelung zwischen Israel und Palästina. Jetzt ist die Lage schwieriger als noch vor zehn Jahren.

Mit der Zeit schwindet die Hoffnung auf Frieden zwischen Israel und den Palästinensern. Umwege über Saudi-Arabien oder andere Verträge wie die Abraham-Abkommen führen nicht nolens volens zu Frieden zwischen Israel und Palästina. Ohne Friedensverhandlungen zwischen Israel und Palästina haben Terroristen und Extremisten im palästinensischen Lager automatisch Rückenwind. Die Folge ist ein Strudel von Gewalt und Gegengewalt.

Frieden ist auch das Anliegen der christlichen Kirchen in Deutschland. Was erwarten Sie von den Kirchen? Haben Sie Erwartungen?

Ich habe keine konkreten Erwartungen an die Kirchen als Organisation. Wir erwarten von europäischen Christinnen und Christen, die aus der Vergangenheit lernen wollen, dass sie sich für den Frieden einsetzen. Slogans reichen dafür nicht aus. Ich wünsche mir, dass die Kirchen auf die Politik Druck ausüben, damit sie mehr tut, als sie bisher getan hat.

Es geht hierbei um die Zivilgesellschaft. Die Zivilgesellschaft setzt die Ziele für die Politik. Ein Ziel der Politik lautet, Israel als Teil der deutschen Staatsräson zu aktivieren. Die Kirchen können dazu beitragen, dass die deutschen Bemühungen für Frieden im Nahen Osten in Bewegung kommen.

Mit mir sind viele in Deutschland beschämt angesichts der pro-palästinensischen Kundgebungen im Land wie in Neukölln in der Nacht nach dem Hamas-Angriff. Was sollte die deutsche Zivilbevölkerung aus Ihrer Sicht tun?

Die Äußerung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum Vorfall fassen zusammen, was es hierzu zu sagen gibt. Es ist beschämend, dass Menschen eine Terrororganisation unterstützen, die wahllos Zivilisten umbringt. Die Freude darüber, dass Zivilisten ermordet wurden, ist beschämend. Dieser Vorfall muss bestraft werden. Es ist in einer aufgeklärten, progressiven, demokratischen Gesellschaft nicht zu dulden.

Möchten Sie noch etwas sagen?

Ich möchte betonen: Das, was jetzt passiert ist, markiert einen tiefen Einschnitt in der Geschichte des Nahen Ostens. Dieser Angriff der Hamas ist präzedenzlos. Deshalb muss die Israel-Palästina-Frage jetzt grundsätzlich thematisiert werden, um auf eine langfristige Lösung hinzuwirken.

Moshe Zimmermann

Prof. Dr. Moshe Zimmermann

Der Historiker Professor Moshe Zimmermann zählt zu den herausragenden Persönlichkeiten des deutsch-israelischen Wissenschaftsaustauschs. Er ist Experten für die Geschichte des Nationalismus, des Antisemitismus sowie der deutsch-jüdischen und deutsch-israelischen Beziehungen. 

  • Geburtsjahr/-ort: 1943 in Jerusalem  
  • Ausbildung: Abitur und Militärdienst in Jerusalem, danach Studium der Geschichte und Politikwissenschaft an der Hebräischen Universität, ab Herbst 1972 DAAD-Stipendiat in Hamburg. Promotion 1977 bei Jacob Talmon: Hamburgischer Patriotismus und deutscher Nationalismus. Die Emanzipation der Juden in Hamburg 1830-1865.
  • Beruflicher Werdegang: Zunächst Lecture dann Professor an der Alma mater in Jerusalem, von von 1986 bis zu seiner Emeritierung 2012 Direktor des dortigen Richard-Koebner-Zentrums für Deutsche Geschichte.

Für seine Forschungen wurde er mehrfach ausgezeichnet:

  • 1990 mit dem Rudolf-Küstermeier-Preis der israelisch-deutschen Gesellschaft
  • 1993 mit dem Humboldt-Forschungspreis
  • 1997 mit dem Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Preis des DAAD
  • 2002 mit dem Dr.-Leopold-Lucas-Preis der Universität Tübingen
  • 2006 mit dem Lessing-Preis für Kritik der Akademie Wolfenbüttel.

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