"Wir hoffen, dass diese Ausstellung eine ist, die diese Menschen nicht vorführt."

Herr Skriebeleit, wie kommt es, dass sich eine Ausstellung zum ersten Mal mit den Zeitzeugen in ihrer Verletzlichkeit befasst, sodass auch das Zustandekommen der Interviews ein Thema wird?

Jörg Skriebeleit: Weil es schon lange notwendig gewesen wäre und weil es dringend notwendig ist. Weil wir an einem Punkt stehen, wo es nur noch wenige Zeitzeugen gibt. Je weniger es wurden, desto mehr wurde die Person des Zeitzeugen verabsolutiert und auf einen Sockel gestellt, der diesen Menschen auch nicht gerecht wird, mit ihren schrecklichen Erfahrungen und unserer eigenen Erwartungshaltung. Diese Ausstellung geht über die Gemachtheit von Erinnerungen und die Dramaturgie von Zeitzeugen-Interviews. Wir hoffen, dass diese Ausstellung eine ist, die diese Menschen nicht vorführt - das ist überhaupt nicht unser Ziel -, sondern die eher uns einen Spiegel vorhält: Was muten wir in unseren Erwartungen diesen traumatisierten Menschen zu, dass sie schrecklichste Dinge immer wieder erzählen mussten.

"Das spiegelt das schlechte Gewissen der Tätergeneration und ihrer Nachfahren wider."

Warum kommt diese Auseinandersetzung über die Gemachtheit der Zeitzeugen-Interviews so spät und ist nicht längst früher geschehen?

Es ist ein großes schlechtes Gewissen der Gesamtgesellschaft, der Schulen, der wissenschaftlichen Institutionen, der Politik, dass man diesen Menschen jahrzehntelang nicht zugehört hat. Darunter haben sie auch gelitten. Auch das ist Thema der Ausstellung: Niemand wollte sie anfangs hören. Dies zu entdecken, kam sehr spät. Der Aufarbeitungswille ging in den 1980er-Jahre los, danach kam der große Memory-Zeitzeugen-Boom in den 90er-Jahren, als in jedem pädagogischen Setting, in jeder historischen Dokumentation Zeitzeugen auftreten mussten. Das spiegelt das schlechte Gewissen der Tätergeneration und ihrer Nachfahren wider, ihnen vorher keinen Raum gegeben zu haben. Das wiederum setzt sie gleichsam unter einen Erwartungsdruck. Auch dies versuchen wir kritisch zu spiegeln.

Der Vorwurf lautet demnach, den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen nur unvollständig oder nicht richtig zugehört zu haben?

Es bleibt eine riesige Lücke! Auch das versuchen wir zu zeigen. Die Zeitzeugen haben die Video-Interviews natürlich freiwillig gegeben. Aber die Zumutung ist die, dass wir es nicht verstehen - nicht aufgrund einer fehlenden Sprachkompetenz, sondern weil wir ihre schrecklichen inneren Bilder nicht nachvollziehen können oder weil wir es auf ein Medienformat gepresst haben. Die Ausstellung ist eine zutiefst humanistische Ausstellung, die diese Menschen auch in dem, was sie nicht erzählen können, indem, was wir ihnen zumuten und dem sie nicht ausweichen können, ernst nimmt.

Die Zeit war lange reif, diese Ausstellung zu machen. Sie gilt uns allen, als Institutionen, als Gedenkstätte, als Schule, als Universität, sie gilt aber auch für die gesamte Gesellschaft. Wir hoffen, dass von dieser Ausstellung und ihrem Rahmenprogramm ein Impuls ausgeht.

"Wir hoffen, dass viele Menschen angeregt und auch ein bisschen verunsichert diese Ausstellung wieder verlassen."

Was wäre die logische Konsequenz aus dieser Erkenntnis: eine Verunsicherung, ein erstauntes, beschämtes Schweigen?

Wenn das von dieser Ausstellung hängen bleibt, dann hätte diese Ausstellung viel erreicht, wenn wir mit Fragezeichen herausgehen und nicht mit Antworten. Die moralischen Botschaften entwickeln sich von selbst, wenn wir darüber nachdenken, warum wir so lange nicht darüber nachgedacht haben. Wir hoffen, dass viele Menschen angeregt und auch ein bisschen verunsichert diese Ausstellung wieder verlassen.

Kommentare

Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.

Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.

Anmelden