"Nie wieder", heißt es am 27. Januar wieder bei vielen Veranstaltungen zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. Seit dem 7. Oktober, dem Massaker der Hamas an der israelischen Zivilbevölkerung und dem anschließenden Krieg in Gaza, hat dieser Satz wieder eine erschreckende Aktualität bekommen. Auch hier in Deutschland fühlen sich Jüdinnen und Juden nicht mehr sicher.

Die Autorin und Journalistin Andrea von Treuenfeld beschäftigt sich seit vielen Jahren mit jüdischem Leben im Nachkriegsdeutschland. Sie hat mehrere Bücher darüber geschrieben und viele Gespräche mit Holocaust-Überlebenden, ihren Kindern und Enkeln geführt. Und sie hat die Erfahrung gemacht, dass die Deutschen immer noch sehr wenig darüber wissen, was es bedeutet, Jüdin oder Jude zu sein.  Das will sie mit ihrem neuen Buch "Jüdisch Jetzt" ändern. Sie hat 26 Jüdinnen und Juden zwischen 20 und 40 Jahren gefragt, wie sie Jüdischsein definieren und leben.

"Das Erstaunliche war, dass diese Generation sich nicht mehr versteckt, sondern ganz bewusst in die Öffentlichkeit geht, im Gegensatz zu früheren Generationen, die keinen Wert darauf legten, in Deutschland als Juden erkannt zu werden."

Das Buch erschien im Frühjahr 2023, und die Autorin erlebte die junge jüdische Generation als sehr selbstbewusst und demonstrativ an die Öffentlichkeit tretend.

Krieg in Gaza hat jüdisches Leben auch in Deutschland verändert

Doch das war vor dem 7. Oktober! Der Tag, an dem die Hamas ein Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung verübte, und der darauf folgende Krieg in Gaza haben das jüdische Leben auch hier in Deutschland verändert und viel schwieriger gemacht. So sieht es auch Ron (21). Er studiert Politikwissenschaften in München und erlebt das jeden Tag:

"Die Stimmung ist viel aufgeladener und man traut sich nicht, sich auf der Straße als Jude zu erkennen zu geben. Wenn ich mit der U-Bahn fahre, will ich den Davidstern nicht draußen haben und nicht, dass ihn jeder sieht."

Ron ist nicht religiös. Jüdisch sein bedeutet für ihn: ...die Tradition aufrecht zu erhalten, die Feste gemeinsam zu feiern. Der religiöse Kontext steht im Hintergrund, es geht einfach darum, zusammen zu sein.

Studentin: Jude zu sein ist nicht nur eine Religion

Zusammen mit Avia (22) engagiert sich Ron im Verband jüdischer Studierender in Bayern. Dort geht es um die Förderung und Vernetzung des jungen jüdischen Lebens in den bayerischen jüdischen Gemeinden sowie um die Stärkung des jungen jüdischen politischen Aktivismus.

"Jude zu sein bedeutet für mich, ein Volk zu haben, eine Familie. Es ist nicht nur eine Religion, sondern es sind Menschen, die einen überall hin begleiten, in guten wie in schlechten Zeiten".

Die Psychologiestudentin hat auch Familie in Israel. Sie macht sich viele Sorgen um sie, erzählt sie, und sei immer wieder erschüttert, wie wenig die Menschen hier über das kleine Land im Nahen Osten wüssten. Israel sei das einzige Land auf der Welt, in dem Juden nicht verfolgt oder benachteiligt werden und damit so etwas wie eine Lebensversicherung für Juden. Der kleine Staat müsse sich gegen Feinde wie die Hamas wehren und die Sicherheit nach dem Massaker wiederherstellen, denn die Terrororganisation rufe zur Vernichtung des Staates Israel und zur Tötung aller Juden auf.

Das werde vor allem in den sozialen Medien viel zu wenig thematisiert, so Aviva: "Es heißt immer nur, Israel hat angegriffen, und es gibt keinen Kontext, und wenn man das wissen will, muss man auf den Link gehen, und dafür haben die Leute heutzutage keine Zeit mehr."

Der weltweit zunehmende Antisemitismus bereitet ihr große Sorgen. Ob verbal, offen oder versteckt, politisch oder religiös motiviert, spielt für sie keine Rolle:

"Antisemitismus beginnt nicht rechts, links, oben, unten, egal. Er beginnt, wenn man denkt, man will den Staat Israel vernichten und die Jüdinnen und Juden gleich mit".

Ron und Avia leben in München, hier ist ihre Heimat. Und damit sie sich hier auch weiterhin sicher fühlen können, wünscht sich Ron: ..."dass die Mitte der Gesellschaft mehr hinter uns steht und das Leid, das wir gerade durchmachen, anerkennt. Der 7. Oktober war für viele von uns sehr schlimm. Das sehen wir, wenn wir zu Demonstrationen aufrufen, die Politikerinnen sind da, aber die breite Masse, die fehlt uns im Moment."

Treuenfeld: Nicht genug Solidarität

Auch Andrea von Treuenfeld weiß die Solidarität der deutschen Politiker und vieler anderer zu schätzen, aber auch ihr ist das noch zu wenig:

"Wenn in Berlin nach dem 7. Oktober eine Solidaritätskundgebung für Israel mit 10.000 Leuten stattfindet und alle jubeln und sagen, wie toll das ist, dann kann ich nur sagen, wie erbärmlich es ist, dass nicht mehr dafür aufstehen. Aber natürlich ist es ein sehr starkes Zeichen, dass jetzt deutschlandweit Hunderttausende Menschen gegen rechts demonstrieren, denn für die hier lebenden Jüdinnen und Juden bedeutet gerade der Antisemitismus von rechts eine massive Bedrohung, die man viel zu lange unterschätzt hat."

Sie ist überzeugt, dass der Antisemitismus hier in Deutschland schon immer sehr stark war und mittlerweile auch gesellschaftsfähig ist. Andrea von Treuenfeld fordert mehr Aufklärung:

"Wir müssen mehr Begegnungen schaffen und die Menschen sensibilisieren für das, was hier passiert:  Dass Juden plötzlich wieder Angst haben in Deutschland, wo sind wir angekommen?"

Die Mahnung "Nie wieder" ist leider aktueller denn je.

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