Die Politikwissenschaftlerin und Direktorin der Politischen Akademie Tutzing, Ursula Münch, erklärt, warum sich viele AfD-Wähler auch von völkischem Gedankengut nicht abschrecken lassen, wie schnell eine Demokratie ausgehöhlt werden könnte und warum ein Mehrfraktionen-Bündnis immer noch besser wäre als die AfD in der Regierung.

Die AfD erlebt gerade einen Höhenflug. Geht es tatsächlich nur um einen Protest gegen die Ampel-Koalition in Berlin?

Ursula Münch: Die Unzufriedenheit von breiten Teilen der Bevölkerung mit der Ampel-Koalition spielt sicherlich eine große Rolle. Aber das ist nicht alles: Die AfD profitiert von den derzeitigen Krisen wie den Kriegen in der Ukraine oder im Nahen Osten, dem Klimawandel, der Energiekrise, der Migration oder Inflation.

Die AfD will als politische Kraft aber den Menschen die Sorgen nicht nehmen, sondern will sie befeuern. Vor allem jenseits der seriösen Medien, etwa auf Plattformen wie Telegram. Da ist schon eine sehr erregte Stimmung zu spüren. Dadurch macht sich die AfD zum Sprachrohr der weniger Privilegierten oder derjenigen, die sich gegen ein vermeintliches "politisches Establishment" stellen wollen.

"Seriöse Medien werden als links und Mainstream abgetan."

Beim rechten Geheimtreffen in Potsdam haben sich AfD-Vertreter mit Rechtsextremisten getroffen, um etwa über eine "Remigration" auch von Deutschen mit ausländischen Wurzeln zu debattieren. Schreckt diese offensichtliche Nähe zum Nationalsozialismus denn reine Protestwähler nicht ab?

Überzeugte AfD-Wähler werden dadurch nicht abgeschreckt, befürchte ich. Das Perfide ist ja: Im AfD-Parteiprogramm steht nichts Völkisches drin, das geht bei der AfD über einzelne Personen. Überzeugte AfD-Wähler sehen die Berichterstattung über das Geheimtreffen in Potsdam oder dass die AfD vom Verfassungsschutz beobachtet wird, als überzogen an. Seriöse Medien werden als links und Mainstream abgetan, den Verfassungsschutz sehen sie nur als Teil der "politischen Klasse" und als "verlängerten Arm" der Regierung.

Gemäßigtere AfD-Wähler aber könnten durch eine zu große Nähe zum Rechtsextremismus schon abgeschreckt werden und etwa zu den Freien Wählern abwandern. Dort wird ja auch aus Protest gegen die Ampel die Meinung vertreten, die Politik müsse beispielsweise wieder zurück zum gesunden Menschenverstand.

Was ist denn hier mit "gesunder Menschenverstand" eigentlich gemeint?

Geschlechteridentitäten oder Gendersternchen hält dieses Milieu offenbar für einen ungesunden Menschenverstand. Rückkehr zur Vernunft meint hier wohl: kein Verbot von Verbrennermotoren, nicht so viel Umweltschutz, weil der unserer Wirtschaft schade, Begrenzung der Migration und damit mehr Wohnraum und sinkende Mieten. Da kommt schon Vieles zusammen.

Ursula Münch
Seit 2011 ist Professorin Ursula Münch Direktorin der Akademie für Politische Bildung - und damit die erste Frau an der Spitze der Institution. Zur Ausübung dieses Amtes ist sie von ihrer Professur für Politikwissenschaft (unter besonderer Berücksichtigung der Innenpolitik und der Vergleichenden Regierungslehre) an der Universität der Bundeswehr München beurlaubt; diese hat sie seit 1999 inne.

Stichwort "Abwanderung von AfD-Wählern": Sahra Wagenknecht hat vor wenigen Wochen eine Partei gegründet. Der frühere Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen (CDU) möchte eine konservative Werteunion-Partei rechts der CDU gründen. Könnten diese Parteien der AfD gefährlich werden?

Darüber zu debattieren, ist noch ein bisschen früh. Frau Wagenknecht hat ja noch kein Parteiprogramm präsentiert, aber offenbar spricht sie einen Teil der AfD-Wähler an. Sie wird aber auch SPD- und Linken-Wähler anziehen, die sich wegen der vermeintlich "woken" Ausrichtung ihrer Parteien nicht mehr aufgehoben fühlen. Und Herr Maaßen muss seine Partei erst noch gründen.

Jedenfalls: Schaffen die beiden es in die Parlamente, hätten wir eine noch stärker zersplitterte Parteienlandschaft. Dann gibt es vielleicht sogar Vierer- oder Fünfer-Koalitionen. Und wir sehen ja, zu wie viel Unzufriedenheit schon eine Dreier-Ampel-Koalition führen kann.

"Schulterschluss gegen die AfD wäre ein wirkliches Dilemma."

Im bayerischen Landtag und auch bundesweit suchen die demokratisch legitimierten Parteien den Schulterschluss gegen die AfD. Ist das eine gute Taktik oder drängt man dadurch die AfD in eine für sie dankbare Opferrolle?

Da muss man genau unterscheiden: Verstößt die AfD gegen parlamentarische Gepflogenheiten, verbreitet Desinformation oder verstößt gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung, sollten sich die übrigen Parteien natürlich gemeinsam positionieren. Aber ein Mehrfraktionen-Bündnis, um zu verhindern, dass die AfD an die Regierung kommt - das wäre ein wirkliches Dilemma. Mit einem solchen Schulterschluss würde man sich keinen Gefallen tun.

Warum nicht?

Weil dadurch die AfD in eine Opferrolle gedrängt würde und ihre Anhänger sich nur bestätigt fühlen, sich gegen das politische Establishment zu stellen. Außerdem: Wenn Parteien sich nur noch darauf einigen können, gegen die AfD zu sein, dann wären sie eigentlich nicht regierungsfähig. Die AfD-Wählerschaft kritisiert ja, dass sich die übrigen Parteien nicht mehr voneinander unterscheiden. Dennoch: So schwierig eine Mehrfraktionen-Koalition auch wäre - sie wäre immer noch besser als die AfD an der Regierung.

"Unsere Demokratie ist leider nicht so wehrhaft, wie wir denken."

Warum?

Wir sehen in Polen, was passiert, wenn völkisch denkende Politiker längere Zeit an der Macht sind. Die Regierung hat Zugriff auf die Justiz, oder sie versucht, die Medienfreiheit zu beschränken. Da geht es um den Zugang zu politisch relevanten Schlüsselpositionen. Unsere Demokratie ist leider nicht so wehrhaft, wie wir denken. Politische Bildung, Migration, Staatsbürgerschaft - das alles ist nicht verfassungsfest und kann relativ leicht abgeändert werden, im Sinne einer völkischen Gesinnung.

Allein wenn jemand von der AfD Landtagspräsident würde: Der Ton, der in den parlamentarischen Debatten gesetzt würde, wäre ein ganz anderer. Ilse Aigner (CSU) ruft in Bayern wegen AfD-Verstößen regelmäßig zu mehr Anstand und einem fairen Umgang miteinander auf. Das würde ein AfD-Politiker als Landtagspräsident nicht mehr machen.

Wie lange würde es eigentlich dauern, unsere Demokratie auszuhöhlen?

In einer Legislaturperiode kann man viel kaputt machen. Bei zwei kann man die gemachten Änderungen nicht mehr so leicht wieder zurückdrehen.

Derzeit wird auch wieder ein Verbot der AfD diskutiert. Was halten Sie davon?

Ich bin keine Befürworterin eines Verbots, weil die verfassungsrechtlichen Hürden einfach sehr hoch sind. Das letzte Verbotsverfahren hatten wir gegen die NPD. 2017 hat das Bundesverfassungsgericht sinngemäß geurteilt, dass man die NPD eigentlich nicht verbieten braucht, weil sie zu klein sei. Was heißt das jetzt für die AfD? Ist die AfD mit ihren plus minus 35 Prozent denn dann nicht schon zu groß? Ich glaube nicht, dass mit einem Verbot ein Bürgerkrieg bei uns ausbrechen würde, aber die AfD-Wähler würden womöglich in ihrer Ablehnung unserer rechtsstaatlichen Ordnung bestärkt. Das Problem wäre jedenfalls nicht gelöst.

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