Wie kam denn die Idee auf, dass Sie gesagt haben, Sie möchten 72 Stunden lang eine Totenwache halten? Also, war das eine spontane Eingebung oder hatten Sie sich das vorher überlegt?

Maren Wurster: Es ist so, dass mein Vater sich um seine Bestattung schon zu Lebzeiten gekümmert hat. Es war dann die Bestatterin, die die Totenwache vorgeschlagen hat. Dadurch, dass ich meinen Vater so lange schon beim Sterben und in diesem ganzen Prozess begleitet hatte, dachte ich mir: Das mache ich. Es war eine Erfahrung, die ich konsequenterweise machen wollte, die zu dem Ganzen dazu gehörte. Wobei ich überhaupt keine Ahnung von einer Totenwache, sondern nur sehr verworrene Vorstellungen davon hatte.

"Ich habe auch viel geweint, ich habe ein bisschen Musik gemacht."

Wie kann man sich eine Totenwache denn vorstellen? Gab es etwas Bestimmtes, das Sie gemacht haben?

Tatsächlich ist es so, dass ich ganz verschiedene Sachen gemacht habe. Ich bin am Totenbett gesessen, ich habe geschwiegen. Ich habe viel mit meinem Vater gesprochen. Ich hatte phasenweise das Bedürfnis, noch viel aus seinem und meinem Leben zu erzählen oder eben auch noch mal zu sagen, was er für mich war, oder auch, wie wichtig er für mich war. Ich habe auch viel geweint, ich habe ein bisschen Musik gemacht. Und dann waren auch noch andere Menschen da. Meine demenzkranke Mutter und mein fünfjähriger Sohn waren zu Teilen dabei. Zwischendurch bin ich auch mal nach Hause gegangen. Ich habe geduscht und bin essen gegangen. Irgendwann ist dann die Zeit selbst zeitlos geworden, die Totenwache wurde ein Raum ohne Zeit.

Man sagt ja, dass Menschen nicht auf einmal plötzlich sterben, sondern dass das ein Prozess ist und länger dauert. Wann hatten Sie denn den Eindruck, dass Ihr Vater jetzt wirklich gestorben ist?

Ich habe den eigentlichen Tod, also diesen letzten Herzschlag und letzten Atemzug meines Vaters verpasst. Das war zunächst sehr erschreckend für mich und auch in gewisser Weise untröstlich, weil ich dachte, ich habe etwas verpasst, ich habe ihn nicht mehr begleiten können. Und dann habe ich in der Totenwache erfahren, dass er als Seele noch anwesend ist. Die Toten sind nicht sofort weg, sondern sie sind noch da. Am zweiten Tag der Totenwache tagsüber gab es diesen Moment, der schwer zu beschreiben ist. Ich hatte zum einen das Gefühl, es tut sich etwas auf über uns und zum anderen, dass andere Seelen anwesend sind und meinen Vater erwarten. Danach hatte ich das Gefühl: Jetzt ist sein Körper tatsächlich so etwas wie eine tote Hülle. Das ist jetzt der Rest und der kann jetzt auch irgendwie verwesen.

"Wenn ein Mensch stirbt, weiß man ja manchmal gar nicht, wohin man mit seiner Trauer gehen soll."

Was könnte das denn in Ihren Augen für unsere Gesellschaft heißen, wenn wir Totenwachen wieder einführen? Wenn es normaler wird, Totenwache zu halten?

Zum einen würden wir uns wieder den Raum für das Sterben, den Tod und die Trauer geben, momentan sind diese Räume in unserer Gesellschaft oft klein oder auch versteckt. Wenn ein Mensch stirbt, weiß man ja manchmal gar nicht, wohin man mit seiner Trauer gehen soll. Oftmals sind die Mitmenschen gehemmt oder man muss schnell wieder für das normale Leben funktionieren. Und die Trauer läuft dann in kleinen, verstohlenen Momenten ab. Die Totenwache ist eine Möglichkeit, unserer eigenen Trauer und unserem Abschiednehmen einen Raum zu geben, der auch heilsam für einen sein kann. Und ich glaube, die Totenwache nimmt uns auch den Schrecken des Todes. Ich spreche jetzt von einem Sterben in einem friedlichen Umfeld, wie es mein Vater hatte.

"Die Totenwache muss ja auch nicht über drei Tage gehen."

Es erleichtert also vieles?

Wenn man die Möglichkeit hat, dass jemand in Frieden oder gelassen geht, dann ist es wirklich schön, wenn man das begleiten kann. Es hinkt einem später dann nicht so hinterher: Das Gefühl, man hat nicht richtig Abschied genommen oder man hätte noch mal was sagen müssen oder man hat nicht genug getrauert. Die Totenwache muss ja auch nicht über drei Tage gehen. Man kann einfach in dem Moment, wo jemand stirbt, kurz innehalten. Das wäre meine Empfehlung. Eben nicht sofort den Verstorbenen und die Verstorbene abtransportieren lassen. Wenn er oder sie im Krankenhaus gestorben sind, ist auch eine Aufbahrung zuhause möglich. Zu sagen: Wir brauchen jetzt noch zwei, drei Stunden. Dass die Hinterbliebenen sich und dem Menschen, der gestorben ist, diesen Moment des Innehaltens gönnen und schenken, bevor es wieder ganz normal weitergeht.

Lesung "Totenwache" mit Maren Wurster

24. November, 19.00 - 20.30 Uhr

Am Donnerstag, 24. November, liest Maren Wurster in der Evangelischen Stadtakademie München aus ihrem neuen Roman "Totenwache". Maren Wurster ist 1976 geboren und studierte Filmwissenschaft und Philosophie in Köln sowie Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2017 erschien ihr Roman "Das Fell", 2021 "Papa stirbt, Mama auch".

Aufbauend auf einer persönlichen Erfahrung erkundet Maren Wurster die Totenwache aus philosophischer, historischer und gesellschaftskritischer Perspektive. An die Lesung anschließend wird es die Möglichkeit zum Gespräch geben.

Ort:
Evangelische Stadtakademie
Herzog-Wilhelm-Str. 24
80331 München

Kosten:
7,00 €

Hier seht ihr ein weiteres Interview mit Maren Wurster: