Der Vizepräsident der EU-Kommission, Valdis Dombrovskis, zeigte sich zufrieden. Es sei an der Zeit, das Freihandelsabkommen mit Indien schnell abzuschließen, schrieb er nach einem Treffen mit dem indischen Handelsminister Shri Piyush Goyal Ende August in Neu-Delhi. Doch Hilfs- und entwicklungspolitische Organisationen schlagen Alarm. Denn die weltweite Versorgungssicherheit mit Medikamenten steht nach ihrer Einschätzung auf dem Spiel.

Medikamentenversorgung hängt von Indien ab

Die Medikamentenversorgung hängt in vielen Staaten von Indien ab. Das asiatische Land ist einer der wichtigsten Produzenten von Generika, günstigeren Nachahmerpräparaten, die dieselbe Wirksamkeit haben wie das Original und nach Ablauf des Patentschutzes produziert werden.

Mit dem Freihandelsabkommen, das seit Sommer 2022 verhandelt wird, wolle die EU Regelungen für den Schutz geistigen Eigentums festlegen, die über den Standard hinaus gehen und die Produktion der Medikamente einschränken oder sogar unterbinden könnten, warnen Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen und das Programm der Vereinten Nationen zu HIV (UNAIDS).

Wegfall hätte fatale Folgen

"Ein Wegfall der indischen Generika würde die ganze Welt betreffen", sagt Carlos Passarelli, leitender Berater für den Zugang zu Medikamenten bei UNAIDS.

"Besonders starke Auswirkungen hätte das in Afrika, aber auch weltweit kommen schätzungsweise 90 Prozent der Aids-Medikamente aus Indien."

Die Tragweite solcher Abkommen zeigt sich am Beispiel Kolumbiens. Wie in vielen lateinamerikanischen Ländern verhindern restriktive Verträge über geistiges Eigentum mit den USA den Zugang zu Generika. Während die HIV-Neuinfektionen weltweit von 2010 bis 2019 um 23 Prozent zurückgingen, stiegen sie in Lateinamerika laut der kolumbianischen Regierung um 21 Prozent.

Kolumbien aktualisierte seine Richtlinien für HIV-Erstbehandlungen 2021 entsprechend denen der Weltgesundheitsorganisation WHO und empfahl das Medikament Dolutegravir zur Therapie. Es gilt als besonders wirksam und sicher, steht in Kolumbien aber unter Patentschutz. Für den gleichen Betrag könne man entweder eine einzige Person mit dem Originalmedikament behandeln oder 36 Patienten mit einem Generikum, rechnete die Regierung im Juni 2023 in einem Beschluss vor, mit dem sie ein Verfahren für eine Zwangslizenz für Dolutegravir einleitete.

Nicht optimal, aber etabliert

Die Möglichkeit, solche Zwangslizenzen zu erlassen, mit denen Staaten die Herstellung patentgeschützter Medikamente erlauben könnten, ist Teil des Trips-Abkommens. 1994 einigten sich die Mitglieder der Welthandelsorganisation (WTO), heute 164 Länder, auf die Bestimmungen, die geistiges Eigentum im internationalen Handel regulieren. Das Abkommen legt Mindeststandards für Patente und Testdaten fest und wird von Experten wie Passarelli als "Nullpunkt" betrachtet: nicht optimal, aber mittlerweile etabliert. Es dürfe auf keinen Fall verschärft werden.

Gerade Entwicklungsländer stehen jedoch häufig unter Druck, strengere, sogenannte "Trips-plus"- Bedingungen zu akzeptieren, die Patente verlängern oder Zwangslizenzen einschränken könnten. Das könnte nun auch mit dem Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien der Fall sein.

Einschränkungen für medizinische Fortschritte

Die größten Einschränkungen, sagt Passarelli, beträfen dann Innovationen und medizinische Fortschritte, die möglicherweise nicht mehr auf Ersatzmedikamente übersetzt werden könnten. So wie bei der mRNA-Technik, die mit den Corona-Impfstoffen bekannt wurde, ein großes Potenzial für unterschiedlichste Krankheiten und Behandlungen habe, aber patentgeschützt ist.

"Es wäre wünschenswert, dass eine solche Technologie verbreitet und von allen genutzt und weiter erforscht wird."

Ähnlich sei es bei lang wirkenden HIV-Medikamenten - eine neue, ebenfalls patentgeschützte Therapie, die auch präventiv wirken könne. Passarelli misst ihr das Potenzial bei, maßgeblich zu einer Überwindung der HIV/Aids-Epidemie beizutragen - erklärtes Ziel der Weltgemeinschaft bis 2030. "Das ist aber nur möglich, wenn die neuen Technologien erschwinglich sind." Dies sicherzustellen, sei essenziell und selbst mit Trips schwierig. Ein "Trips-plus"-Abkommen mache es unmöglich.

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