Eine Entwarnung war das nicht, was man da am "Tag des Sieges" bei der Militärparade am Roten Platz in Moskau beobachten konnte. Es war eine demonstrative Waffenschau, choreografiert von donnernden Hurra-Rufen der Truppe. Gefeiert wurde der 77. Jahrestag des Weltkriegs­endes. Doch diese Show war in Wahrheit eine Ansage an die Welt:

Wladimir Putin will den Krieg, und er treibt ihn weiter voran. Niemand sonst.

Alles deutet auf einen langen Abnutzungskrieg hin

Zwar hat der russische Staatspräsident die befürchteten großen Ankündigungen nicht gemacht: Er proklamierte keinen Sieg, nahm nicht einmal das Wort Ukraine in den Mund und rief auch keine Generalmobilmachung aus, das wäre der Worst Case gewesen. Doch Putin rüstete ideologisch auf, vor allem für die Ohren der eigenen Bevölkerung, platzierte seine Narrative und rechtfertigte den Krieg, der gegen "ein Nazi­regime" und "westliche Aggressoren" geführt werden müsse.

Zum ersten Mal thematisierte er auch die gefallenen russischen Soldaten, nannte sie "Helden" und schwor damit auf noch mehr Opfer, Tote und Verwundete ein. Die Schlussfolgerung daraus lautet: Es ist längst nicht vorbei. Alles deutet auf einen langen Abnutzungskrieg hin.

Die Sorge, in diesem Krieg Schuld auf sich zu laden

Dass es so weit gekommen ist, darüber mag man Wut und Empörung empfinden. Trauer und Bestürzung erfassen einen ob der zahllosen Menschenopfer, gewaltigen Zerstörungen und Verdrehungen der Tatsachen. Auch Ängste vor einer nuklearen Eskalation sollten akzeptiert werden.

Vernunft ohne Gefühl ist blutleer. Aber Entscheidungen dürfen nicht in Gefühlen aufgehen.

In Deutschland wird um die Lieferung von schweren Waffen weiter leidenschaftlich gestritten. Und das ist gut so: Der Streit ist auf beiden Seiten getrieben von der Sorge, in diesem Krieg Schuld auf sich zu laden. Denn die Entscheidung ist zweischneidig. Diese Zweideutigkeit deutlich zu machen ist wichtig.

"Sündige tapfer, aber tapferer glaube!"

Auch innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gibt es widerstrebende Positionen zu Waffenlieferungen in die Ukraine. Gemeinsamer Grund der evangelischen Ethik aber ist Martin Luthers Formel "pecca fortiter, sed fortius fide", auf Deutsch:

"Sündige tapfer, aber tapferer glaube!"

Das bedeutet: Wir kommen aus der Nummer nicht heraus. Wir Menschen machen uns schuldig, ob wir wollen oder nicht. Es gibt seit der Vertreibung aus dem Paradies keinen ewigen Frieden. Im Zweifelsfall gibt es höchstens die Option, auf der Seite der Opfer zu stehen. Die Ukrainer haben ihr Schicksal nicht frei gewählt, sie sind die Zeugen einer Aggression.