"Die Gründung des Hilfsnetzwerks war direkt eine Reaktion auf den russischen Angriff."

Frau Vogel, das Hilfsnetzwerk wurde kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine gegründet. War das Zufall oder Absicht?

Ragna Vogel: Das war direkt eine Reaktion auf diesen Angriff. Kurz danach haben sich die Gedenkstätten, Museen und der Verein Kontakte Kontakty, der das Hilfswerk jetzt ja koordiniert, ausgetauscht, was sie tun können. Wie können wir als Organisationen, die sich mit Naziverbrechen auseinandersetzen, uns angesichts dieser Situation noch mal besonders engagieren? Und dann wurde relativ kurzfristig dieses Netzwerk gegründet, mit dem Ziel, den Überlebenden von nationalsozialistischen Verbrechen, ihren Angehörigen sowie unseren Kolleg*innen vor Ort zu helfen. Das geht immer besser, wenn man sich zusammentut.

Gab es schon vorher Überlegungen in diese Richtung oder war das sehr spontan?

Das ist tatsächlich spontan als Reaktion auf den 24. Februar passiert und es ist ein Beispiel dafür, dass es auch mal schnell gehen kann. Die Stiftung EVZ hat sich bereit erklärt, die Koordination des Hilfsnetzwerks zu finanzieren. Und dann ging die Arbeit sofort los. Es sind knapp 50 Gedenkstätten, Museen, Initiativen, die sich da zusammengeschlossen haben. Wir treffen uns regelmäßig und stimmen uns ab. Viele sind bemüht, bei sich vor Ort, in ihrem Wirkungskreis, Spenden zu sammeln.

Das ist wirklich etwas ganz Neues, was da entstanden ist: Eine konkrete, systematische Unterstützung von Überlebenden von NS-Verbrechen durch Gedenkstätten und Museen.  Das war vorher weniger der Fall. Man hat zwar einzelne Überlebende und ihre Angehörigen zu Gedenkveranstaltungen eingeladen, sich aber nicht in einer umfassenderen Verantwortung für diese Gruppe gesehen.

 Aber Sie haben auch nicht bei null angefangen, oder?

Nein, es gab auch schon vor dem Krieg Unterstützungsstrukturen. Für NS-Überlebende in osteuropäischen Ländern erst mal allgemein. Das ist nichts Neues. Es gibt auch in der Ukraine verschiedene Opferverbände. Es gab also schon Strukturen, die auch vorher schon von der Stiftung EVZ Gelder erhalten haben, zum Beispiel um Medikamente für die NS-Überlebenden zu finanzieren. Das Problem war ja schon immer, dass die Renten sehr niedrig sind, dass die alten Menschen oft prekär leben und dann im Alter mit gesundheitlichen Problemen zunehmend auf Hilfe angewiesen sind. Es ging eigentlich vor allem darum, mit dem Hilfsnetzwerk einen zusätzlichen und direkteren Weg zu finden, die Überlebenden zu erreichen, also schneller und konkret reagieren zu können.

"Es ruft ganz viele Erinnerungen wach und der Gesprächsbedarf ist stark angestiegen."

Haben Sie einen Einblick darin, wie das für die Betroffenen ist? Also sprich, so eine Hölle schon mal überlebt zu haben und jetzt noch mal in eine extrem lebensbedrohliche Situation zu kommen?

Ja, das ist ein großes Thema. Unsere Partner, die mit den Überlebenden ja am meisten in Kontakt sind, berichten ganz viel davon, dass es jetzt Retraumatisierungen gibt, allein durch den Alarm. Es muss gar nicht viel passieren, der ständige Luftalarm reicht schon. Die meisten haben entweder gar keine Möglichkeit, dort, wo sie wohnen, Schutz zu suchen oder sind körperlich gar nicht mehr in der Lage dazu.

Eine Frau
Jewgenija B. (*1926) wurde 1943 zur Zwangsarbeit nach Berlin verschleppt und musste für die Deutsche Reichsbahn arbeiten. Heute lebt sie im Gebiet Mykolajiw.
Eine Frau mit Kopftuch
Tamara S. (*1933) überlebte mehrere Konzentrationslager im vom nationalsozialistischen Deutschland besetzten Estland. Sie wurde zur Zwangsarbeit mit ihrer Mutter nach Finnland verschleppt. Heute lebt sie im Gebiet Mykolajiw.
Ein Mann
Wolodomyr S. (*1926) wurde zur Zwangsarbeit nach Schwenningen (Baden-Württemberg) verschleppt und musste dort für die Würthner-Werke arbeiten. Heute lebt er im Gebiet Mykollajiw.
Ein Mann
Iwan T. (*1935) wurde mit seiner Familie 1942 nach Lettland deportiert. Später wurde er in ein Zwangsarbeitslager für Juden in Dreetz (Brandenburg) verschleppt, seine Mutter überlebte das Lager nicht. Heute lebt er im Gebiet Donezk.

Ich hatte selbst ein Gespräch mit einer Überlebenden, die gesagt hat, sie kann nicht mehr schnell mal die Treppe runter und wieder hoch. Sie meinte: ‚Ich bin so alt, bin jetzt am Ende meines Lebens – wenn es mich trifft, dann trifft es mich eben.‘ Gerade zum Beispiel ehemalige Zwangsarbeiter*innen, die in Deutschland waren, kennen genau diese Situation: Damals als Zwangsarbeiter durfte man nicht die Keller und die Schutzbunker aufsuchen, das war nur für die deutsche Bevölkerung vorgesehen. Es ruft ganz viele Erinnerungen wach und der Gesprächsbedarf ist stark angestiegen.

Das Netzwerk hilft nicht nur Holocaust-Überlebenden, sondern allen, die unter der NS-Herrschaft gelitten haben, richtig?

Wir helfen ganz verschiedenen Opfergruppen. Ehemalige Zwangsarbeiter*innen, oder die, die als Kinder während der Zwangsarbeit ihrer Eltern geboren wurden. Minderjährige Häftlinge, jüdische Opfer, die in Lagern waren, oder auch die, die sich immer in Verstecken aufgehalten haben. Also auch diese versteckten oder vergessenen Opfergruppen, die oft keinen offiziellen Status haben. Die sind zum Glück auch mittlerweile organisierter und die können wir auch erreichen. Und auch Überlebende des Roma-Genozids.

" Menschen, die bisher noch nie irgendeine Hilfe erreicht hat, kriegen jetzt auch durch uns Unterstützung."

Kümmert sich das Hilfswerk auch darum, noch weitere Überlebende ausfindig zu machen?

Genau. Darum geht es ganz viel. Das ist vielleicht auch die Stärke des Hilfsnetzwerks, dass wir jetzt versuchen, sehr viel ergänzend zu den schon bestehenden Strukturen gezielt zu schauen, wo fließen derzeit keine Gelder hin, wo wird noch mehr Hilfe benötigt. Also Menschen, die bisher noch nie irgendeine Hilfe erreicht hat, kriegen jetzt auch durch uns Unterstützung. Wir versuchen, die Lücken zu schließen.

Und wie sieht die Hilfe konkret aus?

Es gibt einmal die gut bewährte Form von schneller Hilfe, die finanzielle Soforthilfe. Das heißt eine Überweisung von meistens 200 Euro, damit Dinge wie Medikamente und Nahrungsmittel für eine Weile gesichert sind. Die Inflation in der Ukraine ist so stark angestiegen im Laufe des Kriegs-Jahres, dass die Renten für die meisten jetzt nicht mehr reichen. Dann haben wir Hilfe in  Form von Sachspenden, also, dass wir Hilfspakete durch unsere Partner packen lassen. Die wissen dann genau, was da am besten reinkommt. Es geht um Grundnahrungsmittel, Medikamente, Kleidung, Decken. Und die dritte Form ist, dass wir denen hier, die hier nach Deutschland gekommen sind helfen. Das sind aber nur sehr wenige. Die meisten bleiben, in dem Alter wollen sie nicht mehr weg.

Ist es möglich, psychosoziale Betreuung anzubieten?

Nein, das machen wir nicht. Aber in der Ukraine sind es unsere Partnerinnen, die das faktisch machen. Sie sind telefonisch immer erreichbar für die, um die sie sich kümmern. Sie rufen auch regelmäßig an, organisieren Treffen. Das versuchen sie, auch jetzt in Kriegszeiten aufrechtzuerhalten. Aber es ist natürlich schwieriger geworden.

"Wir haben ein Patenschaftsprogramm angefangen, und das wollen wir ausbauen"

Welches Ziel setzen Sie sich für die nähere Zukunft?

Wir haben jetzt ja bald ein Jahr Krieg. Und es ist relativ deutlich, dass sich das noch länger hinziehen wird. Deshalb denken wir darüber nach, wie wir längerfristig sinnvoll agieren können. Hilfspakete sind das eine, aber das sind ja immer momentane Unterstützungen. Wir haben ein Patenschaftsprogramm angefangen, und das wollen wir ausbauen, weil wir merken, dass es genau das ist, was den Leuten auch psychologisch hilft, weil es eine Sicherheit bietet.

Wie sehen die Patenschaften aus?

Wir zahlen den Menschen, die wir darin aufnehmen, 40 Euro im Monat. Das war so eine Summe, die wir mit unseren Partnern versucht haben festzulegen. Nicht zu hoch, damit wir möglichst viele erreichen, aber so, dass die Menschen die Sicherheit haben, wir müssen uns keine Sorgen machen, dass wir nicht genug zu essen haben oder unsere Medikamente nicht zahlen können.

Derzeit haben wir 100 Personen, die das erhalten. Sobald wir genügend Spender*innen gefunden haben, werden wir diese Zahl erhöhen, denn es gibt noch viele hochbetagte NS-Überlebende, denen wir diese Art von Hilfe zukommen lassen möchten.

Hilfsnetzwerk für Überlebende der NS-Verfolgung in der Ukraine

Am 9. März 2022 hat sich das Hilfsnetzwerk für Überlebende der NS-Verfolgung in der Ukraine gegründet. Das Hilfsnetzwerk unterstützt Überlebende der NS-Verfolgung in der Ukraine, ihre Familien sowie durch den Krieg betroffene Kolleg*innen aus der Ukraine mithilfe von Spenden unbürokratisch und effektiv.