Das Kreuz des Südens

Es ist spät geworden. Nach einem langen Abend im Mai mit gutem Essen und guten Gesprächen brauche ich jetzt frische Luft. Die Temperatur draußen ist noch angenehm, auch wenn die Uhr schon fast Mitternacht zeigt. Was mir gleich auffällt: Die Sterne am Himmel leuchten heller und klarer als sonst. Jedenfalls kommt es mir so vor. Ich laufe ein paar Schritte. Mein Auge hat sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt. Die Sterne heben sich jetzt noch deutlicher ab vom dunklen Firmament. Ich setze mich auf den Boden, lege mich auf den Rücken und strecke mich aus. Und auf einmal… - das ist doch… - kann das sein? Das Kreuz des Südens! Wie elektrisiert stehe ich gleich wieder auf. Ich drehe mich im Kreis, versuche durch den Blick nach oben mich zu orientieren. Jede Müdigkeit ist von einer Sekunde auf die andere verflogen.

Was mich erstaunt: Ich muss mich nicht einmal anstrengen, das Motiv genau zu erkennen. Es ist da, es leuchtet so hell und klar. Schon die Bilder, die ich vom Kreuz des Südens kenne, sind beeindruckend. Aber unter dem Kreuz des Südens zu stehen – ich bekomme immer wieder Gänsehaut, wenn ich an diesen Moment denke. Unglaublich!

Es ist Anfang der 1990er Jahre. Ich bin als Journalist in Namibia unterwegs, um über die politische Entwicklung des Landes zu berichten, das gerade unabhängig geworden ist. Es gibt das Angebot, in die Namib-Wüste geführt zu werden, die älteste Wüste der Welt. Das lasse ich mir nicht entgehen. Dort besteht sogar die Möglichkeit zu übernachten.

Das Kreuz des Südens ist das wohl bekannteste Sternbild auf der südlichen Hemisphäre. Seine vier Sterne bilden unverkennbar ein Kreuz. Bis etwa 3.000 vor Christus war es auch an unserem Sternenhimmel zu sehen. Doch nicht weniger als etwa 12.000 Jahre müssen wir noch warten, bis es wieder soweit ist. Ich hatte das Glück, es einmal zu sehen in meinem Leben. Ein unvergesslicher Anblick.

Von der Wüste Namibias aus betrachtet, wirkt alles auf einmal so nah, als sei die Milchstraße gleich um die Ecke. Der Nachthimmel ist so hell, weil die Luft klar und sauber ist. Anders als bei uns. Und die Sterne sind auch deshalb besser zu sehen, weil es so gut wie keine anderen Lichtquellen gibt – keine Lichtverschmutzung, unter der wir in vielen Teilen der Welt leiden, wo die Nacht oft taghell erleuchtet wird.

Ob auf der südlichen oder auf der nördlichen Erdhalbkugel: Sterne sind seit jeher Orientierungspunkte und geben die Richtung an. Sie geben Einblick in die unendlichen Weiten des Universums. Sie lassen keinen kalt. Kopf in den Nacken, in den Sternenhimmel schauen…Kindliches Staunen… Sterne bringen Menschen zum Träumen.

Die Weisen aus dem Morgenland folgen einem Stern

Heute, am Dreikönigstag, haben die drei Weisen aus dem Morgenland ihren Auftritt. Das Matthäusevangelium erzählt im 2. Kapitel von ihnen. Sie folgen einem Stern, der sie zur Krippe mit dem Jesuskind führen soll:

Da Jesus geboren war zu Bethlehem in Judäa zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da kamen Weise aus dem Morgenland nach Jerusalem und sprachen: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, ihn anzubeten. Als das der König Herodes hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem, und er ließ zusammenkommen alle Hohenpriester und Schriftgelehrten des Volkes und erforschte von ihnen, wo der Christus geboren werden sollte. Und sie sagten ihm: In Bethlehem in Judäa; denn so steht geschrieben durch den Propheten (Micha 5,1): "Und du, Bethlehem im Lande Juda, bist mitnichten die kleinste unter den Fürsten Judas; denn aus dir wird kommen der Fürst, der mein Volk Israel weiden soll."

Da rief Herodes die Weisen heimlich zu sich und erkundete genau von ihnen, wann der Stern erschienen wäre, und schickte sie nach Bethlehem und sprach: Zieht hin und forscht fleißig nach dem Kindlein; und wenn ihr's findet, so sagt mir's wieder, dass auch ich komme und es anbeten. Als sie nun den König gehört hatten, zogen sie hin. Und siehe, der Stern, den sie hatten aufgehen sehen, ging vor ihnen her, bis er über dem Ort stand, wo das Kindlein war. Da sie den Stern sahen, wurden sie hocherfreut und gingen in das Haus und sahen das Kindlein mit Maria, seiner Mutter, und fielen nieder und beteten es an und taten ihre Schätze auf und schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe.  Und da ihnen im Traum befohlen wurde, nicht wieder zu Herodes zurückzukehren, zogen sie auf einem andern Weg wieder in ihr Land. (Mt 2, 1-12)

Die Erzählung von den Weisen aus dem Morgenland klingt wie ein Märchen. Ein Stern, der am Firmament wandert und den Weg zeigt. Historisch lässt sich nichts von dem beweisen, was Matthäus berichtet. Es gibt eine Theorie, wonach es um das Jahr 7 vor Christus tatsächlich eine besondere Sternenkonstellation gegeben haben soll. Jupiter, der Königsstern, und Saturn, der Stern des Sabbats, der auf das Volk Israel verweist, sollen sich in ihren Laufbahnen so überschnitten haben, dass sie – von der Erde aus betrachtet – wie ein großer Stern aussahen. Ob das der Stern von Bethlehem gewesen ist? Wir wissen es nicht. Auch wenn der Astronom Johannes Kepler im Jahre 1604 das Zusammentreffen von Jupiter und Saturn als ein Phänomen deutete, das sich alle paar Jahrhunderte ereignen könnte und womöglich das, welches die drei Weisen geleitet hat.

Dem Stern folgen – eine Überschrift für jedes Jahr

 Mich hat der Sternenhimmel eigentlich nie interessiert. Ich habe mir immer schwer getan, die Himmelsbilder zu identifizieren. Ich war schon froh, wenigstens den Großen Wagen zu erkennen. Seit meinem Erlebnis mit dem Kreuz des Südens hat sich das gewandelt – ein wenig jedenfalls. Für Horoskope interessiere ich mich nach wie vor nicht, wenngleich ich manche Zuschreibung, die sich mit dem Sternzeichen Stier verbindet, in dem ich geboren bin, an mir zu erkennen meine. Was mich aber mehr und mehr fasziniert, ist die Idee, mein Leben unter der Überschrift zu deuten: "dem Stern folgen". Oder mit anderen Worten: Was leitet mich? Wie finde ich meinen Weg? Was gibt mir persönlich Orientierung? Und komme ich dort an, wo ich eigentlich hin will?

In der Erzählung von den drei Weisen wird ja anschaulich berichtet, dass die vermeintlichen Sterndeuter mit ihrer ersten Prognose daneben liegen: Sie suchen am falschen Ort. Nicht im Palast eines mächtigen Königs ist, was sie zu finden erhoffen. Erst im zweiten Anlauf kommen sie ans Ziel.

"Das steht unter keinem guten Stern!" Wenn meine Großmutter diese oder jene Nachricht mit dieser Anmerkung kommentierte, dann wussten Kinder wie Erwachsene Bescheid: Es ist ein ungewisser oder gar negativer Ausgang zu befürchten. Auch wenig schmeichelhaft ist, wenn mancher, der oder die sich für einen Star hält, bei näherem Hinsehen doch nur ein Sternchen ist. Das Bild vom Stern prägt auch die Weisheit des Volksmunds.

Und noch ein Beispiel: Wer nach den Sternen greift, gilt als mutig – jedenfalls geht er ein Wagnis ein. Sie weiß, was sie will. Sie kennt das Ziel, mindestens hat sie eine Vorstellung davon, aber vielleicht nicht den genauen Weg. Wer dem Stern – seinem Stern – folgen will, muss aufbrechen. In der Schlussphase meines Theologiestudiums war eigentlich klar, dass als nächster Schritt das Vikariat folgen würde. Doch dann entdeckte ich, dass eine Wochenzeitung in Bonn einen Redakteur für theologische Themen sucht.

Der Journalismus war zum Spielbein geworden – und ich konnte mir sehr gut vorstellen, später mal in den Medien arbeiten. Eigentlich kam diese Stellenausschreibung aber zu früh. Doch ich fasste mir ein Herz und bewarb mich – und bekam die Position angeboten. Jetzt war ich unsicher geworden. Das hatte ich jetzt vom Griff nach den Sternen – und wagte es, aufzubrechen. Lieb Gewordenes zurücklassen: die gewohnte Umgebung, den Freundeskreis. Aber auch: erst einmal die theologische Ausbildung nicht abzuschließen. Konnte das gut gehen? Aufzubrechen – ich sah darin eine Verheißung, dass es gut gehen kann. Dass es gut ging, konnte ich nicht wissen, nur erhoffen.

Im Rückblick auf meine beruflichen Anfänge denke ich manchmal, dass manches ganz schön mutig war. Ich aber meinem Stern gefolgt bin. Ich habe ihn nicht am Firmament des Himmels gesehen. Sondern als inneren Orientierungspunkt. Als inneren Kompass, als Herzensding.

Welchem Stern folgen Sie in Ihrem Leben? Ich lasse Ihnen Zeit zum Nachdenken…bei einer Musik…

Hoffnungsbild Stern

Der Stern ist für mich durch und durch ein Hoffnungsbild. Er leuchtet, wenn es rundum finster ist. Die Dunkelheit ist zum Fürchten, wenn der Weg nur schemenhaft oder gar nicht sichtbar ist. Im übertragenen Sinne – wenn Unsicherheit und Angst mir zur Last werden. Wer die Dunkelheit nicht aushält, ist für jede noch so kleine Lichtquelle dankbar.

"Die Sternennacht", so nennt der niederländische Maler Vincent van Gogh ein Bild, das 1889 entstanden ist. Der Künstler, der vermutlich unter Depressionen leidet, ist zu diesem Zeitpunkt Patient in einer Nervenheilanstalt. Gemalt haben kann er es eigentlich nur aus der Erinnerung, denn mit Sicherheit darf er in der Nacht die Klinik nicht verlassen. Das Bild zeigt eine dörfliche Idylle, im Vordergrund mächtige Zypressen. Und alles spielt sich vor einem nachtblauen Himmel ab – mit Mond und vielen Sternen. Als ich das Bild im Original sah – es hängt im Museum of Modern Art in New York –, fühlt ich mich an den Sternenhimmel in der Wüste Namibias erinnert.

So golden, so blütengelb wie ich Sterne zuvor noch nie gesehen hatte – so leuchten sie am Himmel, den van Gogh malte. Ein Hoffnungsbild, so sehen viele das Gemälde des Künstlers. Als einen Versuch, seine Krankheit zu bändigen. Vor allem aber das Gefühl zu bekämpfen, nutzlos dahin zu leben und seine Bestimmung zu verfehlen. In einem seiner Briefe schreibt van Gogh mit direktem Bezug zur Sternennacht: "Dies alles hält mich nicht davon ab, ein unbändiges verlangen nach – soll ich das Wort sagen? – nach Religion zu haben. Dann gehe ich in die Nacht hinaus, um die Sterne zu malen." Er hat ganz viele hell leuchtende wunderschöne Sterne gemalt. Für Van Gogh sind die Sterne eine Zuflucht. Von Menschen fühlt er sich nicht verstanden und nicht geliebt. Don McLean singt davon in seinem wunderschönen Lied "Vincent".

Ich bin noch nicht am Ziel – und Sie sind es vielleicht auch noch nicht. Aber jeder und jede hat schon so manche Wegstrecke hinter sich. Aufbrechen. Losgehen. Sich vergewissern, Unsicherheiten aushalten, Unbekanntes erkunden, stehen bleiben. Umkehren, auf einer Gratwanderung die Balance nicht verlieren, straucheln und wieder aufstehen. Oder mit anderen Worten: Fragen, suchen, zweifeln, vertrauen. Jeder Weg kann so zum Weg des Glaubens werden.

Die Weisen aus dem Morgenland erreichen auch nicht auf Anhieb ihr Ziel, erst im zweiten Anlauf. Aber was, wenn ich mehr als zwei Versuche brauche? Oder das Gefühl habe, nie anzukommen? Ich selbst hoffe, immer wieder Kraft zu haben, den nächsten Versuch zu wagen – meinem Stern zu folgen. Ungeachtet aller Enttäuschungen, die auch in meinem Lebensbuch schon reichlich Platz gefunden haben.

Wenn ich so ins Nachdenken komme, dann ziehe ich für mich Kraft aus einem Gedicht des Lyrikers Reiner Kunze, in dem übrigens die Sterne eine wichtige Rolle spielen:

Rudern zwei ein Boot,
der eine kundig der Sterne,
der andere kundig der Stürme,
wird der eine
führn durch die Sterne,
wird der andere
führn durch die Stürme,
und am Ende ganz am Ende
wird das Meer in der Erinnerung blau sein.[1]

Ich mag dieses Gedicht. Es macht mir Mut, mich auf andere Menschen einzulassen. Im Gedicht sind es zwei. In der Erzählung im Matthäusevangelium sind es drei. Menschen, die ihre Stärken verknüpfen und so gemeinsam das Leben meistern. Jeder und jede bringt etwas ein. Die eine kann die Sterne lesen, der andere kann rudern. Die eine weiß, wo es lang geht, der andere hat die Kraft, das Boot durch alle Stürme zu steuern.

Und am Ende, ganz am Ende wird das Meer in der Erinnerung blau sein.
Was bleibt? Es bleiben mit den Worten Kunzes nicht die Erinnerungen an die harten Zeiten, an steinige Wege, an das Scheitern. Vielmehr die Erinnerung an das, was gelungen ist, gemeinsam durchgestanden wurde. Dass die Sehnsucht sich erfüllt, irgendwann doch anzukommen: Für Glaubende heißt das: bei dem Kind in der Krippe, bei dem Wunder, das Gott schenkt.

Der Stern über der Krippe

Dem Stern zu folgen, das ist keine einfache Angelegenheit. Denn das Ziel oder die Etappen, die ein Mensch ansteuert, lassen sich nicht einfach in ein Navigationssystem eingeben, das die Route wählt und die voraussichtliche Ankunftszeit berechnet. Irren ist also möglich. Das macht mir die drei Weisen sympathisch. Wie sie, hätte wohl auch ich zuerst auf das Große und Unübersehbare geschaut. Was ja ganz automatisch in den Blick fällt: das Machtvolle. Den Palast des Herodes.

Und wenn ich so nachdenke, dann finde ich Macht für sich genommen gar nicht schlecht. Eine starke Demokratie, ein funktionierendes Rechtssystem, freie Medien als vierte Gewalt – das hat doch sein Gutes! Es ist lebensrettend! In einer Studie von Brot für die Welt lese ich, dass weltweit nur zwei Prozent aller Menschen in einem Land mit einer freien Zivilgesellschaft leben, in denen sie ihre Grundrechte auf Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit uneingeschränkt ausüben können. Und Deutschland gehört dazu. So betrachtet, hat Macht etwas sehr Positives, für die ich dankbar bin.

Die drei Weisen enttarnen bei ihrer Suche einen König, der seine Macht missbraucht. Da ist nichts Gutes zu erwarten, wo Mächtige nur darauf aus sind, ihren eigenen Einfluss zu erhalten und zu sichern.

Die Machtinszenierung des Herodes steht im totalen Gegensatz zu dem, wofür die Krippe zum Sinnbild geworden ist: für das Kleine, Schwache, Bedürftige. In der Krippe entdecken die Weisen eine Machtinszenierung eigener Art: Gott wird einer von uns und lässt sich anrühren, berühren.

Zu gern wüsste ich, was die drei Weisen aus der Begegnung mit Jesus mitgenommen haben. Was sie künftig anders machen. Wie es sich im Alltag auswirkt, wenn ich die Frage ernsthaft bedenke: Gott ist Mensch geworden – und was mache ich jetzt daraus? Sie "fielen nieder", erzählt Matthäus. Dazu muss ich mich klein machen, hinunterschauen, niederknien. Mich selbst nicht so wichtig nehmen.

Und zugleich aufzuschauen – mit der Bitte: Weise mir, Gott, den Weg, den ich gehen soll. Schicke mir leuchtende Hinweise an den Wegkreuzungen meines Lebens. Zeige mir Himmelsspuren, zeig mir den Stern, dem ich auf Erden folgen kann. So erfüllt sich dann hoffentlich auch mein Wunsch, anzukommen. Wie die drei Weisen.

 

[1] Reiner Kunze. RUDERN ZWEI. Aus: ders., Frühe Gedichte In: Gespräch mit der Amsel. S. Fischer Verlag GmbH. Frankfurt am Main, 1984.

Evangelische Morgenfeier vom 06.01.2020 mit Pfarrer Udo Hahn, Tutzing, Thema: Folge dem Stern (Matthäus 2, 1-12)