In der Corona-Pandemie hat sich der Antisemitismus in Deutschland weiter verstärkt. "Teils jahrhundertealte antisemitische Verschwörungsvorstellungen erfahren durch die Pandemieeinen neuerlichen Verbreitungsschub, der bis in die Mitte der Gesellschaft reicht", heißt es in einem Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Verschwörungstheoretisches Denken sei während der Pandemie unter anderem über soziale Medien kontinuierlich verbreitet worden.

Pandemie in bereits bestehende antisemitische Verschwörungstheorien eingebettet

Jene Verbreitung antisemitischen Denkens sei unter anderem durch Lockdowns und Kontaktbeschränkungen forciert worden, heißt es in dem "Lagebild Antisemitismus 2020/2021". Die Pandemie werde dabei in erster Linie in "bereits bestehende antisemitische Verschwörungstheorien eingebettet".

Beispielsweise auf Demonstrationen ließen sich Parolen, Symbole und Äußerungen identifizieren, die die Verfolgung von Juden, den Holocaust sowie die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes verharmlosten, erklärte der Verfassungsschutz. Beispiel hierfür sei die Verwendung des gelben sogenannten Judenstern-Aufnähers der NS-Zeit mit der Aufschrift "Ungeimpft".

Anschlussfähigkeit antisemitischer Narrative "erschreckend"

Dass antisemitische Narrative bis in die Mitte der Gesellschaft anschlussfähig seien, sei erschreckend, sagte der Präsident des Verfassungsschutzes, Thomas Haldenwang. Die Narrative dienten als Bindeglied zwischen gesellschaftlichen Diskursen und extremistischen Ideologien.

Haldenwang forderte:

"Es ist gemeinsame Aufgabe der Sicherheitsbehörden und der Zivilgesellschaft, jeder Form von Antisemitismus entschieden entgegenzutreten."

Der Bericht des Verfassungsschutzes wurde erstmals im Juli 2020 vorgestellt. Er beleuchtet ausschließlich Antisemitismus in seinen verfassungsschutzrelevanten Ausprägungen.

RIAS Bayern: Deutliche Zunahme antisemitischer Vorfälle

"Antisemitismus ist Gefahr für Demokratie"

In Bayern nehmen antisemitische Vorfälle in Bayern unterdessen stetig zu. Im Jahr 2021 registrierte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (RIAS Bayern) 447 antisemitische Vorfälle und damit 82 Prozent mehr als noch 2020, teilte RIAS bei der Vorstellung des Jahresberichtes 2021 in München mit. Besonders viele Vorfälle habe es im Rahmen von Protesten gegen Corona-Beschränkungen gegeben, sowie bei israelfeindlichen Demonstrationen im Mai und Juni 2021 und als Direktnachrichten im Internet, sagte Annette Seidel-Arpaci, Leiterin von RIAS Bayern. Es sei darüber hinaus von einem großen Dunkelfeld auszugehen. "Antisemitismus bedroht uns elementar und stellt eine Gefahr für unsere demokratische Kultur dar", sagte Bayerns Sozialministerin Ulrike Scharf (CSU).

Der Jahresbericht dokumentierte drei Angriffe, 15 Bedrohungen, 21 gezielte Sachbeschädigungen, 32 Massenzuschriften und 376 Fälle von verletzendem Verhalten, die oft unterhalb der Strafbarkeitsschwelle blieben. 148 Vorfälle hatten einen Corona-Bezug, 86 davon ereigneten sich auf Versammlungen, etwa indem durch das Tragen von "gelben Sternen" bei Coronaprotesten die Opfer der Schoah verhöhnt wurden. Einen starken Anstieg gab es im Online-Bereich von 45 auf 155 Fälle.

Hinter den Zahlen steckt Lebensalltag

Bei 61 Prozent der Fälle sei ein bestimmter politisch-weltanschaulicher Hintergrund der Täter nicht zu erkennen gewesen, hieß es weiter. Bei den Fällen mit einem festgestellten politischen Hintergrund steht an erster Stelle mit 78 Vorfällen das verschwörungsideologische Milieu. 42 Vorfälle hatten einen rechtsextremen Hintergrund, 36 einen antiisraelischen. "Das sind nicht nur Zahlen, es geht hier auch um Lebensalltag", sagte Seidel-Arpaci. Die Anfeindungen und Bedrohungen, aber auch teilweise "unsäglich alltäglich dahingesagte" Beleidigungen, die Jüdinnen und Juden in Bayern erlebten, seien nicht hinnehmbar.

"Ich finde es unerträglich, dass die antisemitischen Angriffe in Bayern letztes Jahr so deutlich zugenommen haben", sagte Sozialministerin Scharf. Antisemitismus gebe es nicht nur an den Rändern, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft, wie zuletzt bei Corona-Demonstrationen sehr deutlich geworden sei. Verschwörungserzählungen hätten Hochkonjunktur. Dem müsse gezielt mit Prävention und Bildung entgegengewirkt werden, sagte die Sozialministerin:

"Wir brauchen RIAS ganz dringend, um im Kampf gegen Antisemitismus rechtzeitig und richtig ansetzen zu können."

Solidarität, Prävention und Repression

Noch mehr Solidarität, Prävention und Repression forderte Ulrich Fritz, Leiter der Geschäftsstelle des bayerischen Antisemitismusbeauftragten Ludwig Spaenle. Für die Prävention sei es wichtig, auf allen Ebenen Wissen zu vermitteln und aufzuklären, etwa indem Sicherheitskräfte darin geschult würden, antisemitische Äußerungen auf Demonstrationen zu erkennen, sagte Fritz. In Schulen, aber auch in der außerschulischen Bildung, müsse das Wissen über den Nahost-Konflikt deutlich verbessert werden. Positiv bemerkte Fritz, dass die Justiz mittlerweile in ganz Deutschland genauer hinschaue, ob beispielsweise das Tragen bestimmter Symbole im Rahmen von Corona-Protesten oder bestimmte Äußerungen unter den Paragraph der Volksverhetzung fielen.

Florian Ritter, SPD-Sprecher im Kampf gegen Rechtsextremismus, zeigte sich nach der Vorstellung des RIAS-Jahresberichtes alarmiert. Es sei erschreckend, dass antisemitische Vorfälle von Umstehenden häufig einfach hingenommen würden, erklärte der Extremismus-Experte der SPD-Fraktion im bayerischen Landtag. Ritter fordert mehr Einsatz und entschiedenes Handeln: "

Antisemitismus muss man entgegentreten, wo immer er auftritt. Es muss klar sein, dass verbale Angriffe in unserer Gesellschaft nicht toleriert werden."