Sie hat schon in Jerusalem, in Rom und Berlin gelebt und gearbeitet. Aber "Shanghai beats them all" – "Schanghai schlägt sie alle", sagt Annette Mehlhorn. Die 63-Jährige ist seit acht Jahren Pfarrerin in der Deutschsprachigen Christlichen Gemeinde in der chinesischen Metropole. Die Stadt sei Tor zur Welt, aber auch das Tor nach China hinein, sagt Mehlhorn. Schanghai habe immer viele Flüchtlinge aufgenommen, und das habe sie auch reich gemacht. Das fasziniert die Pfarrerin.

"Noch nie so sehr im Dorf gewohnt wie hier"

Seit sie in China arbeitet, lebt sie in einem Viertel, in dem fast ausschließlich Chines*innen wohnen. Einerseits ist da die Nähe zu ihrem Büro; es liegt in derselben Straße wie ihre Wohnung. Andererseits ist es für die Deutsche aber auch belebend, in einem so ursprünglichen Viertel zu wohnen. "Ich habe noch nie so sehr im Dorf gewohnt wie hier", sagt sie und strahlt dabei. Im Dorf? Hier, inmitten von 23 Millionen Einwohner*innen? Aber sicher. Man kennt sich in der Nachbarschaft. Und darum ist auch Mehlhorn natürlich längst bekannt. "Ach, schau mal, da kommt sie wieder, die Langnase", heißt es oft, wenn sie durchs Viertel geht oder durch den Park nicht weit von ihrem Zuhause. Genau das liebt sie.

Viele andere Expats – so werden die Ausländer*innen genannt, die in China auf Zeit leben und arbeiten – wohnen in ehemaligen Kolonialvierteln. Dort gibt es Jazzbars, Theater, ausländische Restaurants und vieles mehr. Wieder andere leben in Vierteln am Stadtrand, in kleinstädtischen Kolonien, wo Deutsche und Deutschsprechende unter sich sind. Annette Mehlhorn braucht keine ausländischen Restaurants in Laufnähe. Sie liebt es, unter Einheimischen zu leben. Auch wenn das von der Verständigung her nicht immer so ganz einfach ist. "Wenn die Leute hier in ihrem Dialekt miteinander sprechen, verstehe ich gar nichts", sagt Mehlhorn und lacht. Mit Englisch kommt man hier nicht weit. Mit Mandarin, der chinesischen Hochsprache, schon eher. Obwohl das auch nicht alle sprechen.

Obwohl sie sich als Frau des Dialogs sieht, sei der Austausch zwischen Chines*innen und Ausländer*innen nicht so einfach

Mehlhorn hat Mandarin gelernt und kann sich ganz gut unterhalten. Aber obwohl sie sich als Frau des Dialogs sieht, sei der Austausch zwischen Chines*innen und Ausländer*innen nicht so einfach. "Auch wer die Sprache gut kennt, kommt am ehesten mit denen in Kontakt, die schon mal länger im Ausland waren", sagt sie. Mit den Menschen im Viertel unterhält sie deshalb eher nachbarschaftliche Kontakte, weniger echte Freundschaften. Chines*innen bleiben einfach gern unter sich. Das findet Mehlhorn auch in Ordnung – und in Deutschland sei das ja auch nicht unbedingt immer anders.

Gemeinde ist ökumenisch

Ganz anders als in Deutschland ist allerdings ihre Gemeinde in China. Zunächst einmal handelt es sich um eine ökumenische Gemeinde; sie wird also nicht nur von Annette Mehlhorn geleitet, sondern auch von ihrem katholischen Kollegen Michael Bauer. Der Kirchengemeinderat besteht sowohl aus evangelischen als auch aus katholischen Christ*innen. Vor der Coronapandemie feierten sie zu besonderen Gelegenheiten gemeinsame Gottesdienste, ansonsten gab es sonntags abwechselnd entweder einen evangelischen oder einen katholischen Gottesdienst.

Annette Mehlhorn hofft, dass die ökumenischen Gottesdienste jetzt, wo die Vorschriften wieder lockerer werden, häufiger gefeiert werden als nur drei, vier Mal im Jahr

Die Pandemie hat das verändert: Seit mehr als einem Jahr gibt es Sonntag für Sonntag allerdings einen gemeinsamen ökumenischen Gottesdienst. Wenn das evangelische Abendmahl ausgeteilt wird, dann hat der katholische Pfarrer einen längeren Predigtteil, gibt es Eucharistie, dann predigt die evangelische Pfarrerin länger. Der alte Streit um die Eucharistie, er scheint inzwischen nicht mehr ganz so wichtig, auch wenn er manchmal noch schmerzt. Doch die Hauptsache ist inzwischen, gemeinsam zu feiern. Annette Mehlhorn hofft, dass die ökumenischen Gottesdienste jetzt, wo die Vorschriften wieder lockerer werden, häufiger gefeiert werden als nur drei, vier Mal im Jahr – wie das vor der Pandemie der Fall war.

Corona hat zu ganz besonderen Gottesdiensten geführt

Überhaupt, die Pandemie. Sie hat zu ganz besonderen Gottesdiensten geführt. Online, zum Beispiel. Oder auch in der Kellerbar eines Restaurants anstelle der christlichen Kirchen, in denen die Gemeinde sonst mit dem Gottesdienst zu Gast war. Einen anderen Gottesdienst wird Annette Mehlhorn so schnell nicht vergessen: als manche Konfirmand*innen zu ihrer Konfirmation gar nicht einreisen durften, weil wegen Corona keiner ins Land kam. Wochen später durften sie erst nach China. Dann wurde die Konfirmation nachgeholt – im ökumenischen Gottesdienst. Selbstverständlich war es ein Gottesdienst unter evangelischer Leitung – aber Michael Bauer war ebenfalls mit von der Partie. Die Gruppenfotos zeigen nun Konfirmand*innen mit evangelischer Pfarrerin und katholischem Priester. "Das hat man ja auch nicht alle Tage", kommentiert Annette Mehlhorn.

Was die Deutschsprachige Christliche Gemeinde in Schanghai auch ausmacht, ist das ewige Kommen und Gehen. "Einmal im Jahr wird etwa ein Drittel der Leute ausgetauscht. Wir begrüßen und verabschieden andauernd Menschen", sagt Mehlhorn. Kontinuierlich immer dieselbe Arbeit, seit Gründung der Gemeinde vor 20 Jahren? Kaum vorstellbar. Denn wer neu dazukommt, bringt meist auch Neues mit. Das Tolle sei, dass man in der Gemeinde immer mit neuen Ideen punkten könne. Die Gemeinde sei offen für Veränderungen, dafür, etwas einfach mal auszuprobieren. Andererseits ist das aber auch anstrengend, denn es gibt keine Arbeit, die einfach so läuft, immer müssen Leute zusammengesucht werden.

Pfarrerin Annette Mehlhorn
Annette Mehlhorn war bis Mai Pfarrerin in der Megacity Schanghai.

Mühsam – aber es lohnt sich

Am Beispiel der Konfirmand*innenarbeit lässt sich das gut zeigen. Die Schwierigkeiten fangen ja schon damit an, dass nicht alle Jugendlichen auf der deutschsprachigen Schule sind. Zu dieser Schule gibt es gute Kontakte; aber viele sind auf internationalen Schulen, an diese Jugendlichen kommt man kaum heran. Hinzu kommt, dass es in China keinen Religionsunterricht an der Schule gibt. Deshalb versucht Mehlhorn, auf vielen anderen Kanälen zu werben. Und sie sagt ihren Gemeindeleuten auch immer wieder, dass sie diejenigen sind, die ebenfalls Werbung machen sollten. Mühsam? Ja. Aber es lohnt sich. Außerdem sei es sehr spannend, weil nichts so bleibt, wie es war.

Für diesen stetigen Wandel hat die Pfarrerin, die aus der Kirche Hessen-Nassau kommt, ebenfalls ein Beispiel parat. Als sie vor etwa einem Jahr in ihrer alten Gemeinde in Rüsselsheim zu Besuch war, da kannte sie von acht Kirchenvorständen sieben. Und das, obwohl sie schon sieben Jahre in China war, und es in der Zwischenzeit Kirchenwahlen gegeben hatte. Im gleichen Zeitraum hatte Mehlhorn 31 unterschiedliche Gemeinderäte in Schanghai. Vor der Pandemie kamen viele Menschen auch nur für zwei Monate. Aber in diesen zwei Monaten haben sie sich engagiert. Jeder, der kommt, wird sofort integriert. Genau diese Mischung findet Annette Mehlhorn so anregend.

20, 30, vielleicht auch mal 40 Gottesdienstbesucher*innen

Die Größe der Gemeinde lässt sich übrigens nur schätzen. So sind im Mailverteiler rund 800 Adressen, im WeChat-Verteiler, eine Art chinesisches WhatsApp, sind es etwa 500 Leute. Manche Gottesdienste sind stark besucht, etwa Neujahr, Weihnachten – gerade in Corona-Zeiten. Da durften viele nicht nach Hause ausreisen, die Gemeinde war quasi der Familienersatz. Und so kamen 500, 600 Menschen. Auch die regulären Willkommensgottesdienste sind mit 120 bis 180 Menschen ganz gut besucht. Aber zu normalen Sonntagen, da kommen so 20, 30, vielleicht auch mal 40 Menschen.

Schlimm? Keineswegs. Die Deutschsprachige christliche Gemeinde ist eben ein Anbieter unter vielen in der Community. Sie ist bekannt, und wenn es drauf ankommt, dann sind die Menschen auch da. Das muss aber nicht unbedingt der Gottesdienst sein. Sehr häufig werden Pfarrer Bauer und Pfarrerin Mehlhorn auch kontaktiert, wenn die Menschen persönliche Probleme haben. Eheschwierigkeiten. Zoff in der Familie. Da ist Seelsorge gefragt – und zwar nicht nur von den Frommen oder den Kirchenaffinen. "Wir sind bekannt, und die Menschen haben Vertrauen zu uns", sagt Mehlhorn.

Das alte China, das es zu Beginn ihrer Zeit in Schanghai noch an vielen Ecken in der Stadt gab, verschwindet immer mehr+

Wolkenkratzer statt einfacher Hütten

Veränderung, die ist in einer Stadt wie Schanghai an der Tagesordnung. Wenn man zwei Wochen mal nicht in der Stadt ist, könne es sein, dass sich das eigene Wohnviertel komplett verändert hat, sagt Mehlhorn. Das alte China, das es zu Beginn ihrer Zeit in Schanghai noch an vielen Ecken in der Stadt gab, verschwindet immer mehr. Überall würden alte Viertel entkernt und abgerissen. Gentrifizierung, Wolkenkratzer statt einfacher Hütten. Sicher, diese alten einfachen Hütten hätten noch nicht einmal fließendes Wasser. Aber sie hatten einen besonderen Charme. Die Nachbarschaft und ihr Zusammenhalt, beispielsweise. Sie waren Orte aus einer anderen Zeit mit einem anderen Tempo als der Rest dieser atemlosen, dieser rasenden Stadt, die überall in die Spitzenklasse aufsteigen will und deshalb nie zur Ruhe kommt.

Die ursprünglichen Bewohner*innen solcher Viertel werden nun an den Stadtrand umgesiedelt. Und so schön, wie es ist, dass es nun auch fließend Wasser für die einfache Bevölkerung gibt: "Ich fürchte, dass das, was die Stadt so charmant gemacht hat, unwiederbringlich verloren geht." Allerdings: In ihrem Viertel, da ist noch vieles beim Alten. Das zeigt sie gerne Besucher*innen, Angehörigen der Expats, aber auch Chines*innen, wenn sie Spaziergänge durch Schanghai und vor allem durch ihr Viertel anbietet.

Ausländische Gemeinden gehören in China nicht zu anerkannten Religionsgemeinschaften

Aber nicht nur Gemeinde und Stadt sind im Wandel, auch das ganze Land. In den letzten Jahren werde verstärkt durchregiert, es gebe mehr Kontrolle und auch mehr Reglementierungen. Außerdem sei es schwieriger geworden, auf institutioneller Ebene, zum Beispiel auf Kirchen­ebene, den Dialog zwischen Gästen und Einheimischen zu pflegen. Dass ausländische Gemeinden keine Registrierung vom Staat bekommen und damit nicht zu den anerkannten Religionsgemeinschaften gehören, das sei hingegen schon immer so gewesen. In den Untergrund müssten sie aber nicht. Dennoch: Während offiziell registrierte Kirchen schon seit dem Herbst 2020 wieder ihre Kirchen nutzen dürfen, gibt es diese Lockerung für ausländische Gemeinden erst jetzt, im Herbst 2021.

"Die meisten Christ*innen kamen mit einer Fremdherrschaft ins Land."

Das habe auch etwas mit der Vergangenheit zu tun, sagt Mehlhorn. "Die meisten Christ*innen kamen mit einer Fremdherrschaft ins Land." Da seien eben auch viele Verletzungen entstanden, die sich ins kollektive Gedächtnis eingeprägt haben. Doch insgesamt gelte: "Vieles geht, solange die Partei es kontrolliert." In diesem Zwiespalt stünden auch die registrierten christlichen chinesischen Gemeinden. Dennoch: Annette Mehlhorn ist sehr dankbar dafür, was alles möglich ist. Und auch, dass ihre Gemeinde wieder in chinesische Kirchen gehen kann, um Gottesdienste zu feiern.

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