Die rechte Hand, als Faust über der linken, bewegt sich im engen Halbkreis unter die linke Faust: "Reformation" in Gebärdensprache: Etwas wird verändert, neu gemacht. Aber Brigitte Schmidts Mimik wird lebhaft. "Es geht hier nicht nur um Veränderung. Der Begriff ›Reformation‹ hat noch weitere Bedeutungen." Als Katechetin bei der Gehörlosenseelsorge befasst sich Schmidt seit drei Jahren intensiv mit Gebeten und liturgischen Anteilen des gebärdensprachlichen Gottesdiensts. Der Gottesdienst ist ein wichtiges Standbein der bayernweiten Gebärdensprachlichen Kirchengemeinde.
Und wie gebärdet man Gott?
Hörende haben oftmals viel mehr religiöses Vorwissen als gehörlose Personen, erklärt Brigitte Schmidt. Bei einem gehörlosen Menschen ist der Inhalt eines Begriffs oft nicht genau geklärt. "Daher müssen wir genau überlegen, wie wir übersetzen", so Schmidt in Gebärdensprache. "Reformation würde richtig übersetzt auch so aussehen", gebärdet sie, formt dann die rechte Hand zur Faust und führt diese nach oben. Unwillkürlich denkt man an Martin Luther, der gegen Missstände der damaligen Kirche protestiert hat. Ja, auch so wäre "Reformation" richtig übersetzt.
Das ist es, was an der gebärdensprachlichen Gemeindearbeit begeistern kann – hier wird nicht einfach nur übersetzt. Bei der Übersetzung in Gebärdensprache ist es immer wichtig, zu schauen: Was steckt inhaltlich dahinter? Und es ist am Ende theologische Arbeit. Und wie gebärdet man Gott? Drei Finger der Hand zeigen nach oben. Klar – Trinität. "Im Vaterunser geht hier nicht nur um das tägliche Brot", erklärt Brigitte Schmidt zum nächsten Thema. "Da steckt doch mehr drin! Alles, was wir zum Leben brauchen, er deckt unseren Bedarf!"
Warum es eine spezielle Gebärdensprachliche Kirchengemeinde braucht
Es wird deutlich, wo der Unterschied zu anderen Gemeinden liegt und warum es eine spezielle Gebärdensprachliche Kirchengemeinde braucht: Eine Übersetzung des lautsprachlichen Gottesdiensts durch eine Dolmetscherin ist ein himmelweiter Unterschied zu einer Liturgie in Gebärdensprache ohne Vermittlung. Zum einen, weil die Blickachsen ganz andere sind: Wenn ein Liturg vor der Gemeinde steht und lautsprachlich predigt, dann schaut die gehörlose Gemeinde nicht ihn an, sondern den Dolmetscher. Dieser hat entsprechend viel Einfluss auf die inhaltliche Ebene des Gottesdiensts.
Grundlegend ist das, laut Brigitte Schmidt, vor allem auch deswegen so, weil gehörlosen Menschen viele religiöse Begriffe nicht geläufig sind. Deshalb will sie zeigen: "Was steckt inhaltlich drin?" Denn sie selbst hat als junge Frau lange keinen Bezug zur Kirche aufbauen können. "Wenn man im Gottesdienst nichts versteht, sieht man nur diese gruseligen Bilder", erklärt sie. Den Gekreuzigten, die blutigen Szenen des Alten Testaments. Als Katechetin will sie es heute besser machen. Sie will gehörlosen Menschen den christlichen Glauben und die Inhalte näherbringen, ohne hinter Floskeln stehen zu bleiben. Schmidt möchte, dass der Kirche daran gelegen ist, Inhalte verständlich zu machen.
Aber die Tätigkeitsfelder der Gehörlosenseelsorge gehen weit über Gebärdensprache im Gottesdienst hinaus. "Wir haben im Grunde drei Standbeine", erklärt Kirchenrätin Cornelia Wolf, landeskirchliche Beauftragte für die Gehörlosenseelsorge. Zusammen mit Kirchenrat Matthias Derrer koordiniert sie die Gebärdensprachliche Kirchengemeinde in Bayern und leitet ein berufsübergreifendes Team in Nürnberg, das zu 50 Prozent aus gehörlosen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besteht. Dazu kommen eine Sozialberatung und die Gehörlosenseelsorge.
Einsamkeit ist ein großes Problem
Die Gebärdensprachliche Kirchengemeinde mit ihren über 20 Gottesdienstorten deckt das Gebiet der bayrischen Landeskirche ab. Die Gemeindeteile werden von einem Team hauptamtlicher Seelsorgerinnen und Seelsorger versorgt. So haben Gottesdienste mitunter ein großes Einzugsgebiet. Pfarrerin Wolf kommt zu ihren Schäfchen. Sei es eine Beerdigung auf dem Waldfriedhof Schwabach, oder ein Schulgottesdienst in Zell. Das gilt auch für seelsorgerliche Besuche. In Nürnberg wird Wolf von einem Team unterstützt. Rosa Reinhardt ist eine der wichtigen Ansprechpersonen für die Senioren des Nürnberger Gemeindeteils und nimmt sich viel Zeit für Hausbesuche bei den gehörlosen, älteren Gemeindegliedern. "Hier ist Einsamkeit ein großes Problem. Mit unseren Besuchen versuchen wir, dagegenzusteuern", erklärt sie.
Gerda Fink, Gemeindeglied im Gemeindeteil Marktoberdorf, winkt aus dem Fenster, als sie Benjamin Müller, ihren Seelsorger, kommen sieht. "In den schlimmen Lockdowns kam der Diakon immer vorbei. Wir haben uns lange unterhalten, durch das Fenster", gebärdet sie mit schnellen Handbewegungen, "das ist ja der Vorteil für uns Gehörlose. Kommunikation durch die Scheibe ist möglich."
Kontakt
Gehörlosenseelsorge und Gebärdensprachliche Kirchengemeinde
Kirchenrätin Cornelia Wolf und Kirchenrat Matthias Derrer
Lorenzer Platz 10
Nürnberg
Tel.: (09 11) 50 72 43 01
E-Mail: buero@egg-bayern.de
Mehr Informationen: handlungsfelder.bayern-evangelisch.de/handlungsfeld4.php
Serie "Mitten im Leben – Seelsorge und Beratung"
In der neuen Serie "Mitten im Leben – Seelsorge und Beratung" stellen wir je einen Bereich der Seelsorge der Evangelischen Kirche in Bayern vor.
Folge 1: Landwirtschaftliche Familienberatung der Landeskirche
Folge 2: Telefonseelsorge
Folge 3: Gehörlosenseelsorge
Folge 4: Schulseelsorge
Folge 5: City-Seelsorgestellen
Folge 6: Seelsorge in Alten- und Pflegeheimen
Folge 7: Gemeindeseelsorge
Folge 8: Klinikseelsorge
Folge 9: Polizeiseelsorge
Folge 10: Notfallseelsorge
Folge 11: Seelsorgeausbildung
Folge 12: Studierendenseelsorge
Folge 13: Gefängnisseelsorge
Folge 14: Ehe-, Familien- und Lebensberatung der Diakonie
Folge 15: Militärseelsorge
Folge 16: Schwerhörigenseelsorge
Folge 17: Flughafenseelsorge
Folge 18: Blinden- und Sehbehindertenseelsorge