Fälle sexuellen Missbrauchs in Institutionen aufzuklären, gestaltet sich laut dem Münchner Juristen Ulrich Wastl wegen der Abhängigkeit von Zeugen und Tätern gegenüber Verantwortlichen schwierig. Solche Abhängigkeiten könnten auch zu Erpressbarkeit der Betroffenen führen, sagte er im Gespräch mit dem Sonntagsblatt.

Ein generelles Problem sei auch, dass sich bei solchen internen Ermittlungen regelmäßig zwei Lager gegenüberstünden: einmal diejenigen, die jegliche Aufklärung aus verschiedenen Motiven torpedieren wollten. Auf der anderen Seite diejenigen, die rückhaltlose Aufklärung für zwingend geboten hielten.

Aufklärung von sexualisierter Gewalt innerhalb von Institutionen "möglicherweise zum Scheitern verurteilt"

Dem pflichtete auch der Betroffenensprecher im Missbrauchsskandal bei den Regensburger Domspatzen, Michael Sieber, bei. Ihm zufolge ist die Aufklärung von sexuellem Missbrauch innerhalb von Institutionen "möglicherweise zum Scheitern verurteilt, eine echte Befriedung schwerlich erreichbar", sagte er.

Der Untersuchungsleiter von Fällen sexueller Gewalt brauche eine größtmögliche Unabhängigkeit und Distanz zur Täterorganisation. "Es gibt keinen neutralen Blick, wenn er Teil der Organisation war oder ist", sagte Sieber. Das gelte für alle Institutionen, nicht nur für die Kirchen. Sieber war bis Sommer 2016 einer der Betroffenen-Vertreter in den Verhandlungen mit dem Bistum Regensburg.

Vollumfängliche Akteneinsicht und alleiniges Veröffentlichungsrecht

Zudem müsse vollumfängliche Akteneinsicht sowie ein uneingeschränktes und alleiniges Veröffentlichungsrecht der Abschlussberichte gewährt werden, wie es beim Regensburger Rechtsanwalt Ulrich Weber der Fall gewesen sei. Grundsätzlich forderte Sieber für die Aufarbeitungsgremien eine paritätische Besetzung sowie einen unabhängigen, externen Mediator.

"Das Modell der Aufarbeitung ist letztlich ein Kompromiss zwischen zwei sich gegenüberstehenden Seiten, der vor einem neutralen Leiter verhandelt werden muss."

Zwischen 1945 und 2015 ist es bei dem weltberühmten Knabenchor laut Abschlussbericht zu 547 Fällen körperlichen und/oder sexualisierten Missbrauchs gekommen. Dabei wurden 49 Täter ausgemacht.

Betroffene müssen Ausgangspunkt jeder Aufarbeitung sein

Ausgangspunkt jeder Aufarbeitung im Bereich des sexuellen Missbrauchs müssten die Betroffenen sein, sagte der Münchner Jurist Wastl. Die Ermittler müssten deren zumeist traumatische Erlebnisse offen wahrnehmen. Damit sich die Betroffenen offen äußern könnten, müsse für sie "ein in hohem Maße geschützter Raum" geschaffen werden. Ulrich Wastl war einer der Anwälte der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW), die das im Januar veröffentlichte Missbrauchsgutachten für das Münchner Erzbistum erstellt hatten.

Warum gerade die Kirchen beim Thema sexuellen Missbrauch so im Fokus stehen, wird laut Wastl aus diversen Gutachten deutlich. Gerade die beiden Kirchen predigten vor allem in der Kinder- und Jugendarbeit zurecht höchste moralische Grundsätze. "Die Fallhöhe ist dann im Falle eines sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen im kirchlichen Umfeld naturgemäß besonders hoch und die öffentliche Reaktion hierauf mit Fug und Recht entsprechend", sagte Wastl.

Ausschließlich juristische Aufarbeitung reicht nicht

Eine Aufarbeitung, die sich nur auf juristische Fragen beschränke, mache daher von vornherein keinen Sinn.

"Die Kirchen müssen sich gerade auch bei diesem Thema an ihren eigenen Maßstäben messen lassen."

Die Kirchen seien aber mit dem Thema "sexueller Missbrauch" nicht allein, sagte Wastl. Eine Wagenburgmentalität infolge eines besonderen Korpsgeistes sei nicht nur auf Kirchen beschränkt. Derartige Phänomene seien beispielsweise auch im militärischen und polizeilichen Bereich nachgewiesen worden.

Für das Münchner Missbrauchsgutachten hatte die Kanzlei WSW Fälle sexuellen Missbrauchs im Erzbistum München und Freising in den Jahren 1945 bis 2019 untersucht. Dabei fanden sie Hinweise auf mindestens 497 Betroffene und 235 Täter, davon 173 Priester. Die Ermittler gehen von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus.