"Als die Nazis an die Macht kamen, war Ulrich Theologiestudent. Als das Theologiestudium (an der Kirchlichen Hochschule der BK [Bekennenden Kirche]) verboten wurde, setzte er sein Studium im Untergrund fort. Der Vorlesungsort mußte beständig gewechselt werden, und Ulrich war einer der Studenten, die bekannt gaben, wo die nächsten Vorlesungen stattfinden würden. Er geriet unter Verdacht, und sein Zuhause wurde von der Gestapo durchsucht – sie fanden nichts –, aber er mußte von nun an äußerst vorsichtig sein. Schließlich wurde ihm klar, daß er das Land verlassen mußte. Glücklicherweise hatte er Verwandte in England. Er bekam die Erlaubnis, sie zu besuchen."
Ulrich Leupolds kanadische Ehefrau Gertrude schrieb diese Zeilen an den Berliner Kirchenmusiker und Musikwissenschaftler Dieter Zahn - fast 20 Jahre nach dem Tod des Liederdichters und Theologen am 9. Juni 1970.
Ulrich Leupold und der Zweite Weltkrieg
Wie viele andere Verfolgte und Überlebende des Holocaust tat sich Leupold nach dem Krieg schwer, über das Erlebte zu sprechen: "Mein Mann wollte nicht über seine Jahre in Berlin sprechen. Ich erfuhr das Wenige, was ich weiß, von seiner Mutter, die nach dem Krieg zu uns zog. Auch sie mußte sich wegen ihrer jüdischen Vorfahren während des Krieges verstecken. Schon ihre Eltern waren Christen gewesen. Ihre einzige Schwester Paula Igel wurde im Konzentrationslager ermordet."
Die Rolle der Kirche
Es sind wenige Zeilen, aber sie sagen viel über eine Kirche, die in ihrer breiten Mehrheit dem NS-Rassenwahn nicht entgegentrat, nicht einmal für die eigenen Mitglieder, wenn diese jüdischer Herkunft waren, und auch nicht die gern zur Widerstandsorganisation hochstilisierte Bekennende Kirche.
Dieter Zahn war viele Jahre Organist an der Martin-Luther-Kirche in Berlin-Neukölln. Als der gebürtige Weißenburger herausfand, dass einer seiner Vorgänger als Kirchenmusiker der Gemeinde von den Nationalsozialisten und seiner Kirche als "Halbjude" verfolgt wurde, erforschte er Ende der 80er-Jahre dessen Geschichte: Evaristos Glassner (1912-1988) war der Sohn einer ostpreußischen Pfarrerstochter und eines österreichischen Mathematikers mit jüdischen Wurzeln.
Dieter Zahn und Evaristos Glassner
Als der junge Kirchenmusiker Glassner 1935 durch die Reichsmusikkammer Kündigung und Berufsverbot erhielt ("keine Eignung im Sinne der nationalsozialistischen Staatsführung"), widersetzte der Kirchenvorstand sich zunächst. Das ist umso bemerkenswerter, als der Vorsitzende des Gemeindekirchenrats, Pfarrer Kurt Saran, "Deutscher Christ" und ein persönlicher Spezi von "Reichsbischof" Müller war.
Doch als es um die Berufung des jungen Kirchenmusikers zum Kirchenbeamten ging, machte die Kirchenleitung einen Rückzieher. Gesetz ist schließlich Gesetz, auch wenn es ein menschenverachtendes Rassegesetz ist. Evaristos Glassner emigrierte in die Niederlande. Im Amsterdamer Kreis um Julius Spier war er für die Musik zuständig. Auch Etty Hillesum (1914-1943) lernte er hier kennen.
Anders als Hillesum, die in Auschwitz-Birkenau starb und bewegende Tagebücher mit großer spiritueller Tiefe hinterließ, überlebte Glassner. Nach Deutschland kehrte er nicht mehr zurück. Zahn hat ihn kurz vor seinem Tod 1988 noch kennengelernt.
Der Kirchenmusiker Ulrich Siegfried Leupold
Bei seinen Recherchen in Berlin stieß Zahn auch auf die Geschichte des "Halbjuden" Ulrich Siegfried Leupold. Auch sie ist eine eher stille Geschichte.
Geboren wurde er am 15. Januar 1909 in Berlin. Sein Vater Anton Wilhelm Leupold war ein namhafter Organist; er wirkte an der 1945 zerstörten St.-Petrikirche in Berlin-Mitte. Seine Mutter Gertrud, Sängerin und Musiklehrerin, stammte aus einer evangelischen Familie mit jüdischen Wurzeln.
Nach dem Abitur 1927 fing Leupold in Berlin ein Theologie- und Musikwissenschaftsstudium an. "Offenbar schwebte ihm schon als Student eine Tätigkeit vor, die Musik, Musikwissenschaft und Theologie verband", schreibt Dieter Zahn. Leupold war erst 23, als er 1932 mit einer Arbeit über "Die liturgischen Gesänge der evangelischen Kirche im Zeitalter der Aufklärung und der Romantik" promovierte - bis heute ein Standardwerk. Die Folgen der antisemitischen NS-Gesetzgebung zeigten sich für den jungen Musikwissenschaftler und Theologen auch daran, dass sein Name als einer der Mitarbeiter am "Handbuch der Deutschen Evangelischen Kirchenmusik" (Göttingen 1935 ff.) nicht auf die Titelseite gesetzt werden durfte.
Da ihm noch zwei Semester fehlten, um das Theologiestudium abzuschließen, studierte er 1935/1936 an der illegalen Kirchlichen Hochschule der Bekennenden Kirche, die unter der Leitung von Martin Albertz stand. Im Juni 1937 legte er mit Erfolg das erste Theologische Examen ab und begann ein Vikariat.
Nach nur sechs Monaten brach er dieses 1938 ab und entschloss sich für den Gang ins Exil.
1940 erschien sein Name und der seiner Mutter im berüchtigten "Lexikon der Juden in der Musik" von Herbert Gerigk und Theophil Stengel. Viele der darin verzeichneten Musiker, denen die Flucht nicht gelang, wurden ermordet.
Über die Zwischenstation England, wo seine Schwester Barbara verheiratet war, erreichte Leupold die USA. Von dort ging er 1939 nach Kanada, um in Kitchener (Ontario) bis 1942 als "assistant pastor" zu arbeiten.
Am 11. Juli 1942 heiratete er hier Gertrude Daber und übernahm anschließend eine eigene Pfarrstelle in Maynooth (Ontario). Ab April 1945 wurde Leupold Professor für Neues Testament und Kirchenmusik an der Waterloo Lutheran University (Ontario), zugleich war er hier Kirchenmusikdirektor.
Der kanadische Musikwissenschaftler Paul Helmer attestiert Leupold, er sei einer der Pioniere der Musikwissenschaftler in Kanada überhaupt gewesen: Die Disziplin existierte vor dem Zweiten Weltkrieg an den kanadischen Universitäten noch nicht.
Vom Dekan zum Direktor
Ab 1957 war Leupold Dekan, ab 1968 Direktor des Seminars. Er gründete und leitete Chöre, veranstaltete Kurse für Organisten und Chorleiter und publizierte unermüdlich zu kirchenmusikalischen und theologischen Themen.
Es war nicht so, dass Leupold nie wieder deutschen Boden betreten wollte: Er war regelmäßig in Europa, er engagierte sich in der Ökumene, vor allem im Lutherischen Weltbund (LWF). Im Sommer 1964 tourte er mit zwei deutschen, einem schwedischen und einem US-Kollegen für Vorlesungen zum Thema "The Christian Church and Society" durch Europa. Stationen waren Oxford, Hamburg, West- und Ostberlin sowie München.
Leupold und seine Lieder
Aus dieser internationalen Vernetzung heraus ist auch Leupolds Lied "Er ist erstanden, Halleluja" entstanden. Wie vieles Schöne und Erfolgreiche hat es nämlich viele Väter und Mütter. Seine Melodie geht auf einen Stammesgesang der Haya im Nordosten Tansanias zurück. 1966 machte der tansanische Pfarrer Bernard Kyamanywa (geb. 1938) in der lutherischen theologischen Hochschule von Arusha (Makumira) daraus das Suaheli-Kirchenlied "Mfurahini, haleluya".
Angeregt wurde er dazu vom deutschen Bethel-Missionar Gerhard Jasper (1927-2007), der seine Schüler aufforderte, neue Texte zu traditionellen afrikanischen Melodien zu schreiben. Jaspers Nachfolger, der US-Amerikaner Howard S. Olson, setzte die Arbeit fort. Er brachte das Lied, das 1968 erstmals in einem Liederbuch erschien, nicht nur nach Nordamerika, sondern auch in eine internationale Liederbuch-Arbeitsgruppe, zu der Ulrich Leupold gehörte.
Für das LWF-Liederbuch "Laudamus" schuf Leupold eine deutsche Nachdichtung, die sich über die Netzwerke der deutschen Missionswerke in den 70er-Jahren rasant verbreitete. Wie "afrikanisch" die Melodie ist, ist jedoch umstritten. Gerhard Jasper, der durch seine Begegnungen mit dem Islam in Tansania zu einem Wegbereiter des christlich-islamischen Dialogs in Deutschland wurde, hat gemutmaßt, dass es sich ursprünglich um ein Lied englischer Missionare gehandelt hat, das "aufgrund seiner tänzerischen Bewegung eine bereitwillige afrikanische Adaption erfahren hat".
Das Schweigen über das Leben in Deutschland
Warum Leupold bis zu seinem Tod hartnäckig geschwiegen hat über sein "erstes Leben" in Deutschland (Zahn), seine rassische Verfolgung und das Schweigen seiner Kirche, darüber lässt sich nur mutmaßen. In einer Predigt mit dem Titel "Alle Christen sind Asylanten" hat Leupold 1950 den Schritt des Emigranten nach Amerika einmal mit der Lebenszäsur von Christus-Bekenntnis und dauerhaftem Christwerden verglichen: "Wir gehen in eine neue Welt, wenn wir Bürger des Reiches des Herrn Jesus Christus werden (…) In geistlicher Hinsicht zum ‚Asylanten‘ zu werden ist nicht weniger schmerzlich als das Verlassen des Heimatlandes."
Neue Heimat fand der Berliner Leupold in einer Gegend Kanadas, die ziemlich deutsch ist oder es jedenfalls war. Deutschsprachige Protestanten aus Pennsylvania siedelten hier schon seit Ende des 18. Jahrhunderts. Waterloo gehört zum Ballungsgebiet der bekannteren Stadt Kitchener südwestlich von Toronto. Bis Mitte des Ersten Weltkriegs hieß die Stadt Berlin.
Zweite Heimat in Kanada
Die Wilfrid-Laurier-Universität von Waterloo ist aus einem 1910 gegründeten evangelisch-lutherischen Seminar hervorgegangen. Zu der seit 1973 öffentlich-säkularen Universität mit heute drei Standorten gehört bis heute eine organisatorisch eigenständige evangelisch-theologische Fakultät, das "Martin Luther University College".
In der Nähe des Uni-Campus gibt es ein Leupold-Wohnheim. Ein Pfarrer, der dort als Student gewohnt hatte, meldete sich auf dessen Artikel hin bei Zahn: Erst durch die Veröffentlichungen hatte er erfahren, was der wahre Hintergrund für Leupolds Auswanderung war.
Krankheit ALS
Kurze Zeit nachdem Leupold das Lied schuf, das heute im Gesangbuch zu finden ist, erkrankte er an amyotropher Lateralsklerose (ALS), einer unheilbaren degenerativen Erkrankung des Nervensystems, und starb bald darauf - vor genau 50 Jahren, am 9. Juni 1970.
Dieter Zahn hat das Lebens Leupolds erforscht zu einer Zeit, als man im evangelischen Deutschland an einem neuen Gesangbuch arbeitete. Nun steht wieder eine Überarbeitung an. Die EKD hat dazu bereits eine Steuerungsgruppe und eine Gesangbuchkommission berufen.
Der muss man ans Herz legen, Ulrich Leupold und "sein" frohes Osterlied auch ins neue Evangelische Gesangbuch zu übernehmen. Und wenn es nur deswegen wäre, um exemplarisch an das Versagen einer Kirche zu erinnern, die im Nationalsozialismus wenig oder nichts für ihre rassisch verfolgten Mitglieder tat.