"Wir fragen hier in der Gemeinde nicht danach, wen jemand liebt. Hier sind alle gleichberechtigt – ob Menschen schwul, lesbisch oder trans* sind, ist bei uns kein Thema." So oder ähnlich signalisieren inzwischen zahlreiche Vertreter*innen der Kirchen ihre Offenheit und Toleranz. Ein großer Fortschritt gegenüber den leidvollen Erfahrungen von Ausgrenzung, die für viele queere Gläubige noch nicht lange zurückliegen!

Auch institutionell hat sich in den vergangenen Jahren einiges verändert. In den meisten evangelischen Landeskirchen werden Trauungen gleichgeschlechtlicher Paare gefeiert: eine Reform, die durchaus auf Widerstände stieß. In der römisch-katholischen Kirche macht es die neue Grundordnung des kirchlichen Dienstes Beschäftigten möglich – wenn auch nicht immer leicht – mit ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität offen umzugehen.

Für die Kirchen mögen das große Schritte sein, angekommen in der Lebensrealität queerer Menschen sind sie damit aber noch nicht. Gerade junge Erwachsene assoziieren Kirche, gleich welcher Konfession, oft mit rigiden Normen. Unter den weniger kirchenverbundenen Queers in meinem Bekanntenkreis erlebe ich einerseits ein großes Interesse an Spiritualität, andererseits eine spürbare Anspannung in kirchlichen Kontexten.

Oft stehen Fragen im Vordergrund, die auf den ersten Blick banal wirken, etwa: Was soll ich anziehen, um im Gottesdienst nicht schräg angeschaut zu werden? Dahinter steckt das Gefühl, dass die eigene Identität, und eben auch deren Ausdruck, in christlichen Gemeinschaften nicht vollständig willkommen sind. Aus der Erinnerung an institutionalisierte Diskriminierung sowie aus eigenen verletzenden Erfahrungen mit Kirchenvertreter*innen sind berechtigte Vorbehalte entstanden.

Schutz vor negativen Erlebnissen für queere Menschen

Um sich vor weiteren negativen Erlebnissen zu schützen, verbergen LGBTIAQ+ Menschen einen Teil ihrer selbst – oder gehen vollständig auf Distanz zu Glaubensgemeinschaften. Bei einem Treffen queerer Studierender wurde ich einmal gefragt, wie ich es überhaupt mit mir vereinbaren könne, später in einem kirchlichen Beruf zu arbeiten. Die Fragende war eine junge lesbische Frau, die in einem evangelischen Pfarrhaus aufgewachsen ist und durchaus von aktuellen Reformen weiß.

Was wäre also nötig, damit die Kirchen für queere Menschen vertrauenswürdig werden? Ein Anfang wäre aufrichtiges Interesse. Wer wen liebt sollte eben doch Thema sein dürfen unter denjenigen, für die Liebe das höchste Gebot ist. Ebenso relevant ist die Frage, wie jede*r Einzelne im Frieden mit sich selbst leben kann – und dazu gehört die eigene Identität als Frau, Mann oder nicht-binäre Person.

Die Schuld, die die Kirchen im Umgang mit queeren Menschen auf sich geladen haben, kann durch die gegenwärtigen Fortschritte nicht ungeschehen gemacht werden. Vergebung darf Zeit brauchen, und sie kann von langen, nicht immer bequemen Gesprächen begleitet sein. Zugleich haben queere Menschen mehr gemeinsam als ihre Diskriminierungsgeschichte.

Queer sein bedeutet auch, Grenzziehungen zu hinterfragen und dadurch einen offenen Blick auf die Wirklichkeit in all ihrer Komplexität, Schönheit und Fragilität zu entwickeln.

Viele queere Menschen haben intensiv mit ihrer Identität gerungen und damit, wie Gemeinschaften nachhaltig und solidarisch miteinander leben können. In all diesen Erfahrungen steckt ein großer spiritueller Reichtum. Kirchen können vom ihm profitieren, indem sie sich aktiv für marginalisierte Menschen öffnen. Vom Gottesdienst über die Planung der Konfi-Freizeit bis zur Synode sollte verstärkt darauf geachtet werden, dass eine Vielfalt von Stimmen Gehör findet.

Explizit queer-freundliche Seelsorgeangebote müssen ausgebaut und bekannter gemacht werden. Fortbildungen für Mitarbeitende können die Expertise von Menschen nutzen, die beruflich über queere Lebensrealitäten aufklären – und damit Gemeindemitglieder davon entlasten, ihre Lebensweise erklären zu müssen, während sie eigentlich Kraft für die neue Woche tanken wollen. Aufbrüche in diese Richtung sind schon erkennbar. Hoffentlich werden sie dazu führen, dass eine größere Fülle von Glaubenserfahrungen unsere Kirchen bereichert.


 


 

Kurzbio:

Nathalie Schuler hat Literaturwissenschaft und Gender Studies studiert und ist Priesteramtskandidat*in in der Alt-Katholischen Kirche. Für die Predigt zum Münchner CSD-Gottesdienst 2023 wurde Schuler mit dem Ökumenischen Predigtpreis ausgezeichnet.

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