Warum wird eine Sammlung von Musikstücken zu einem Meilenstein der populären Musikgeschichte, der mit rund 50 Millionen zu den meistverkauften Platten aller Zeiten gehört? Das liegt nicht nur an der mitreißenden Musik, sondern auch an dem Gesamtkonzept mit Texten, die den Menschen noch heute direkt vom Ohr in Herz und Hirn gehen.

Im Fall von Pink Floyds "Dark Side of the Moon" war es nicht nur das richtige Album zur richtigen Zeit: Denn als die Scheibe veröffentlicht wurde, waren Pink Floyd zwar schon in ihrer britischen Heimat Stars und fingen gerade an, Amerika zu erobern.

Allerdings befand sich die Gruppe gerade an einem künstlerischen Scheideweg: Die Anfänge der Band, die Ende der 1960er-Jahre im Swinging London mit psychedelischen Sounds und auch für heutige Ohren noch spannenden Klangexperimente und ihrem genial-verrückten Kopf Syd Barrett auf sich aufmerksam machte, hallten zu Beginn des neuen Jahrzehnts noch nach. Gitarrist David Gilmour hatte der Band längst musikalisch seinen Stempel aufgedrückt, während Bassist Roger Waters eifrig am lyrischen Konzept arbeitete.

So richtig schienen Pink Floyd aber nicht zu wissen, wo die künstlerische Reise hingehen soll. Selbst das nur ein Jahr vorher erschienene Soundtrack-Album "Obscured by clouds" ließ musikalisch noch nicht erahnen, dass 1973 der Durchbruch mit einer teils völlig überraschenden Neuausrichtung auf "Dark Side of the Moon" erfolgen sollte.

Krisengespräche in der Küche

Hatten Pink Floyd ihre Songs bisher meist erst im Studio während stundenlanger Jams geformt, sollte die Arbeitsweise nun anders werden: Im Dezember 1971 traf sich, der Legende nach, die Band in der Küche von Schlagzeuger Nick Mason. Roger Waters soll seinen Kollegen ein durchgängiges Thema für das nächste Werk vorgeschlagen haben, in dem es um das Leben an sich in seinen Facetten gehen sollte. Im Mittelpunkt sollten menschliche Probleme und Abgründe von der Hektik des Alltags, Todesangst, von Gier bis zum Wahnsinn stehen.

Der Herzschlag am Anfang und Ende einer durchkomponierten Reihung an Songs sollte dabei die Klammer bilden.

"Er spielt auf das Menschsein an und gibt für die Musik die Stimmung vor, die die Emotionen beschreibt, die man während des Lebens durchmacht. In all dem Chaos gibt es Schönheit und Hoffnung für die Menschheit",

beschrieb das Gilmour im Interview mit dem Melody Maker am 19. Mai 1973. Das Album handle von den Belastungen, die einen jungen Menschen in den Wahnsinn treiben können.

Diese Wirkung wird nicht nur durch die Musik, sondern auch die zahlreichen Soundeffekte des Albums verstärkt. Neben besagtem Herzschlag ist besonders charakteristisch die Schleife aus den Klängen von zerrissenem Papier, einem Drehschalter, Münzen, einer Kette und einer Registrierkasse, mit denen das groovige "Money" beginnt.

Der wohl bekannteste Song des Albums hatte nicht nur ein markantes Riff, sondern auch ein Saxophonsolo – in den Ohren mancher klassischer Floyd-Fans unerhört, ebenso wie die "Uuhs" und "Aahs", die von Backgroundsängerinnen an manchen Stellen der Platte auftauchen und eher an Pop-Pomp statt an progressiven Rock erinnern. Der Song handelt – wie der Name vermuten lässt – vom Fluch und Segen des Geldes, worin sich viele Hörer wiederfinden konnten.

Tickende Uhren und freier Gesang

Oder die tickenden Uhren und Wecker bei "Time", die nach einem wachsenden Anschwellen alle auf einmal losgehen. Tontechniker Alan Parsons, damals 23 Jahre alt und später selbst ein Star mit seinem nach ihm benannten Projekt, hatte sie in einem Uhrenladen in der Londoner Abbey Road, wo auch das Aufnahmestudio zu "Dark Side of the Moon" stand, aufgenommen. Die Klänge leiten in einen rockigen Shuffle mit lautem Gesang ein, bei dem man genau hinhören muss. David Gilmour singt vom Vertrödeln der Lebenszeit und davon, dass jeder Tag uns dem Tod ein Stück näher bringt.

Am Schluss ruft er die "Gläubigen" an, den "magischen Formeln zu lauschen, die mit leiser Stimme gesprochen werden". Philippe Margotin interpretiert die Zeile "and you run and you run to catch up with the sun, but it´s sinking” (Du rennst und rennst, um die Sonne einzuholen, aber sie sinkt) sogar als Verweis auf Johannes 1,5 ("Und das Licht leuchtet in der Finsternis / Und die Finsternis hat es nicht erfasst").

Einer der aufregendsten Songs des Albums ist das Instrumental "The great gig in the sky" aus der Feder von Tastenmann Rick Wright, das als Arbeitstitel "The Religious" trug – wohl auch, weil Wright die Akkorde zuerst auf einer Orgel spielte, die wie in einer Kirche klang. Passend dazu hatten Pink Floyd bei den ersten Live-Aufführungen des Stückes schon vor der Veröffentlichung von "Dark Side of the Moon" Texte aus dem Epheserbrief und dem Vaterunser vom Band mit einfließen lassen.

Auf der Aufnahme hört man Gerry O´Driscoll, damals Hausmeister der Abbey Road sagen, er habe keine Angst vor dem Sterben. Ihm antwortet die Frau von Bandmanager Peter Watts, Patricia, dass sie niemals Angst vor dem Sterben gehabt habe. Diese und viele weitere Wortfetzen hatte Roger Waters rund um die Produktion des Albums von eher zufällig ausgewählten Personen aufgenommen, denen er Fragen stellte wie "Hast Du Angst vor dem Tod?" oder "Wann hast Du Dich zum letzten Mal geprügelt?"

Nach diesen Einspielungen setzt Sängerin Claire Torry mit einem frei improvisierten Gesang an – ohne Worte, nur Vokale, reinster Ausdruck von leise wimmernd bis ekstatisch schreiend. So etwas hatte man bis dato auch noch nicht – und danach nie mehr – auf einem Rock-Album in dieser Form gehört.

Dark Side of the Moon
Das ikonische Cover von "Dark Side of the Moon".

Ikonische Pyramide

Die Klarheit dieser einmaligen Gesangsvorstellung spiegelt auch die Grundidee des Albums wieder, mit dem der lyrische Geist Roger Waters "Ausdruck politischen, philosophischen und menschlichen Mitgefühls" zeigen wollte. Dazu passt auch das ikonisch gewordene Cover, das ein augenscheinlich gläsernes Dreieck auf schwarzem Hintergrund zeigt, das von einem Sonnenstrahl getroffen wird und das Licht in Regenbogenfarben splittet. Storm Thorgerson, einer der Grafiker des verantwortlichen Designbüros "Hipgnosis", beschrieb das Dreieck als Symbol für Gedanken und Ziele, seine Funktion als Prisma stehe für Dichte und Kraft, aber auch für Reinheit.  

Das Cover ziert auch den anlässlich des 50. Geburtstag des Albums erschienenen Jubiläumsbildbands, der auch die Entstehung der Pyramide behandelt. Das Buch zeigt bisher ungesehene Fotografien der Bandmitglieder bei den Aufnahmen zum Album und der anschließenden Tourneen. In 128 Schwarz-Weiß-Fotos und 65 Farbbildern wird die von ihren Fans so mythisch verehrte Band dabei auch ganz nah: Neben tollen Live-Aufnahmen und Großportraits sieht man die Mitglieder feixend neben der Bühne, lachend beim Squash-Spielen oder beim Unterhalten mit den Kinder der Mitmusiker. Die zwischen 1972 und 1975 entstandenen Fotos bieten damit neue Facetten der Band.

Der Wahnsinn und die Wiedergeburt

Letztlich geht es bei "Dark Side of the Moon" also um Alles: Um Entfremdung von der Kindheit über gesellschaftliche Zwänge bis hin zum Tod. Über allem schwebt der "Wahnsinn", der die Chiffre für die dunkle Seite des Mondes darstellt. Erst im vorletzten Stück "Brain Damage" wird der Albumtitel übrigens das erste Mal gesungen – nahezu hellseherisch: "And if the band you’re in starts playing different tunes, I’ll see you on the dark side of the moon" (Und wenn deine Band beginnt, nicht mehr zu harmonieren, sehen wir uns auf der dunklen Seite des Mondes). Vier Alben sollten Pink Floyd in den kommenden zehn Jahren noch im Studio aufnehmen, bis der Wahnsinn des Megastar-Daseins endgültig überhandnahm und die Band auseinanderbrach.

Im letzten Song "Eclipse" zählt Roger Waters wie ein Fazit noch einmal alle bisher präsentierten Gedanken auf: "Alles, was Du berührst, und alles, was du siehst, alles, was Du schmeckst (…) das ist das, was Dein Leben sein wird." Eine offensichtliche Parallele zum Buch Kohelet des Alten Testamentes, wo in Kapitel 3, 1-3 steht "Alles hat seine Zeit. Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde (…)". "But the sun ist eclipsed by the moon" lautet die letzte Zeile des Liedes.

"Wenn die Sonne also von Mond verfinstert wird, dann kommt also nichts mehr nach dem Tod?",

könnte man dies interpretieren. Aber es gibt Hoffnung, endet das Album doch, wie es begonnen hat: mit einem leisen Herzschlag.

Kommentare

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Reinhold Richter am Don, 16.03.2023 - 19:55 Link

So begeistert man auch sein kann von Roger Waters und seinen Mitstreitern, aber man sollte gerade in dieser Zeitung die Aktualität um diese Person nicht unerwähnt lassen. Die jüdische Gemeinde in Frankfurt am Main hat sich deutlich gegen einen Auftritt von Herrn Waters wegen seiner antisemitischen Äußerungen ausgesprochen. Und dies sollte man dann auch so umsetzen. Wer die Gefühle der Vertreter der Opfer des Holocaust verletzt, hat auf deutschen Bühnen nichts zu suchen!