"Die Faszination wird eigentlich von Jahr zu Jahr mehr."
Wenn Sie sich an den Moment erinnern, als Sie das Weihnachtsoratorium von Bach das erste Mal gehört haben, und diese Erfahrung mit Ihrem heutigen Empfinden vergleichen: Was hat sich an Ihrem Hörerlebnis geändert?
Johanna Soller: Von der anfänglichen Faszination ist nichts verloren gegangen. Es wird eigentlich von Jahr zu Jahr mehr. Das ist das Unglaubliche: Man lernt es zwar immer genauer kennen, aber es wird nicht langweilig. Man denkt auch nicht, jetzt kenne ich das Werk, sondern es ist eher eine Art Detektivarbeit.
Sie entdecken also immer wieder etwas Neues?
Absolut. Ich finde auch, das muss der Anspruch sein. Bei Bach ist das aber nichts, wozu ich mich zwingen müsste. Es ist einfach jedes Jahr aufs Neue spannend.
Was macht das Weihnachtsoratorium denn so besonders?
Was es besonders macht, ist natürlich zum einen die Dimension. Es fällt in eine schon spätere Schaffensperiode von Bach, wo es für ihn eher im Mittelpunkt steht, große Werke, Kunstwerke zu schaffen. Es scheint ihm wichtig gewesen zu sein, von der Dimension her etwas Größeres zu schaffen, etwas zu hinterlassen.
"Weihnachten ist ein unheimlich spannungsreiches Fest."
Und ganz konkret die Musik selbst?
Das Besondere ist für mich, dass das Werk einerseits einen großen Bogen spannt, den man erst wirklich spürt, wenn man alle sechs Teile spielt, was relativ selten vorkommt. Zum anderen hat jeder Teil für sich ein eigenes Spannungsfeld. Weihnachten ist ein unheimlich spannungsreiches Fest, weil es zwar einerseits die Geburt darstellt, also etwas zeigt, das den Menschen sehr nahe ist, aber der christliche Gedanke doch die größtmöglichen Gegensätze zusammenbringt - Gott und Mensch, ein Gegensatz, wie er größer nicht sein könnte. Jeder Teil konzentriert sich auf eine ganz spezielle Themen-Polarität und umkreist sie. Durch die sechs Teile wird das Weihnachtsmysterium oder die Weihnachtsgeschichte aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und man kommt der Idee als Ganzes immer näher.
Steht jeder Teil auch für sich?
Jeder Teil hat seinen eigenen Charakter. Im ersten Teil erlebe ich einen starken Kontrast zwischen der Geburt eines kleinen Kindes einerseits, das auch im Schluss-Chor besungen wird: 'Ach, mein herzliebes Jesulein’. Pauken und Trompeten deuten dieses Kind musikalisch aber schon um in das, was es eben auch ist: ein 'Großer Herr und starker König'. Kind und König, Größe, Majestät und völlige Niedrigkeit sind hier vereint.
Im zweiten Teil stehen eher die Figuren im Mittelpunkt, die himmlischen Engel und die Hirten auf der Erde. Im vierten Teil, schon am weitesten entfernt von Weihnachten, geht es um den Namen Jesu und die barocke Kunst zu sterben und die Kunst zu leben. Leben und Tod spielen in diesem Teil eine große Rolle. Jeder Teil reflektiert auf seine Weise die Idee von Weihnachten, und das ist es, was mich fasziniert - die Geschlossenheit der einzelnen Teile, wie auch die Gesamtheit des Oratoriums, das sich zu etwas Großem zusammenfügt.
Also versteht, wer das Weihnachtsoratorium hört, die Bedeutung von Weihnachten?
Die grundlegende Frage zu Weihnachten lautet immer: Warum? Warum geschieht das jetzt? Warum muss Gott Mensch werden? Diese Frage wird meiner Meinung nach am deutlichsten im vierten Teil beantwortet: "Gottes Sohn will der Erden Heiland und Erlöser werden." Allem Zukünftigen, auch der Passion, wird in dieser Deutung schon der Weg bereitet.
"Ich bin sicher, dass ein großer Teil des Publikums nicht an das glaubt, was in der Weihnachtsgeschichte erzählt wird."
Braucht es andersherum gefragt ein gewisses Grundverständnis des christlichen Glaubens, um das Weihnachtsoratorium in seiner Gesamtheit genießen zu können? Muss man vielleicht sogar gläubiger Christ dazu sein?
Ich bin sicher, dass ein großer Teil des Publikums nicht an das glaubt, was in der Weihnachtsgeschichte erzählt wird, und dennoch berührt ist, mitempfindet. Man kann sich trotzdem vorstellen, welche gigantische Idee hier transportiert wird. Weihnachten übt ja als Fest eine Faszination aus, bis heute. Ich glaube, das liegt daran, dass es sehr nahbar ist und dass auch jeder mit der Symbolik von Finsternis und Licht etwas anzufangen vermag. Vielleicht geht es darum, sich einzulassen. Das muss deswegen nicht weniger spannend sein, weil eine Idee mit den eigenen Glaubensüberzeugungen nicht übereinstimmt.
Sie raten der Zuhörerschaft also, sich auf den spirituellen Aspekt einzulassen?
Ich persönlich finde, dass es dem Werk etwas nimmt, wenn man die spirituelle Ebene ausklammern möchte. Das Weihnachts-Oratorium ist natürlich ein spirituelles Werk und die Musik ist nicht etwa nur schön, sondern öffnet eben auch tiefere Ebenen.
"Alle anderen Kantaten schließen eher so, wie sie begonnen haben, die fünfte macht da eine Ausnahme."
Gibt es eine der sechs Kantaten, die Sie besonders schätzen?
(überlegt kurz) Ich liebe sehr die fünfte.
Warum?
Ich liebe schon besonders den Eingangschor "Ehre sei dir Gott gesungen", der nur so sprudelt voller Energie und Freude. Es gibt die wunderschöne und sehr dunkle Bass-Arie in fis Moll "Erleucht auch meine finstre Sinnen". Der ganze fünfte Teil endet aber fast schlicht und leise. Alle anderen Kantaten schließen eher so, wie sie begonnen haben, die fünfte macht da eine Ausnahme mit dem zarten Choral:
"Zwar ist solche Herzensstube
Wohl kein schöner Fürstensaal,
Sondern eine finstre Grube;
Doch, sobald dein Gnadenstrahl
In denselben nur wird blinken,
Wird es voller Sonnen dünken"
Der ganze fünfte Teil kreist um die Polarität von Licht und Finsternis und nähert sich Weihnachten so auf eine sehr allgemeine Art. Die Sehnsucht nach Licht, wenn es dunkel ist, kann wahrscheinlich jeder Mensch ganz tief nachvollziehen.
"Man kann mit dem Topos der Dunkelheit zu dieser Jahreszeit am meisten anfangen."
Wäre es für Sie eigentlich denkbar, das Weihnachtsoratorium unabhängig von der Weihnachtszeit aufzuführen, also beispielsweise im Hochsommer?
Für mich persönlich hat das Fest per se viel mit der Jahreszeit zu tun, allein durch seine Positionierung im Jahr. Es kommt nicht von ungefähr, dass das Fest Weihnachten in unmittelbarer Nähe zur Wintersonnenwende gefeiert wird. Man kann mit dem Topos der Dunkelheit zu dieser Jahreszeit am meisten anfangen und auch die Sehnsucht nach Sonnenlicht ist jetzt am stärksten. Damit ist schon eine Empfindungsebene für das Weihnachtsoratorium gelegt.
Das Weihnachtsoratorium von Bach wurde erst etwa 100 Jahre nach seiner Entstehung richtig entdeckt. Woran lag das?
Das hängt vor allem mit dem damals sehr schnelllebigen Musikgeschmack zusammen. Es war üblich, tatsächlich zeitgenössische Musik aufzuführen. Heutzutage kaum vorstellbar! Obwohl Johann Sebastian Bach natürlich einen Namen hatte, waren Komponisten der folgenden Generation, seine Söhne Carl Philipp Emanuel, Johann Christian Bach und viele andere, zu ihrer Zeit viel berühmter. Es brauchte erst eine gewisse Bach-Renaissance im 19. Jahrhundert durch Persönlichkeiten wie Mendelssohn, um das Interesse an älteren Werken wiederzubeleben.
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